Kirchenbote 
        Kanton St. Gallen, Oktober 2007
        
        
        Bibelbetrachtung zu 1. Mose 11,4
        von
        Pfr. Dr. Dölf Weder, Kirchenratspräsident 
         
        
        Und sie sagten: «Auf, wir wollen 
        eine Stadt
        bauen und einen Turm, dessen
        Spitze bis an den Himmel reicht, und uns
        so einen Namen machen, damit wir uns
        nicht über die ganze Erde zerstreuen.»
        1.Mose 11, 4
        
        Der Turm zu Babel ist der in unserem Kulturkreis wohl 
        bekannteste Turm. Meist wird seine Geschichte dazu verwendet, das 
        verwerfliche Streben des Menschen nach «Sein wie Gott» zu illustrieren.
        Gottes Zerstreuen der Menschen in alle 
        Himmelsrichtungen erscheint so als Strafe für menschliche Vermessenheit. 
        Die Vielfalt der Kulturen und Religionen wird als bedauernswerte Folge 
        menschlichen Fehlverhaltens statt als Bereicherung verstanden. Liest man 
        ihn genau, sagt der Text aber etwas anderes.
        Angst vor der 
        Vielfalt
        In der Geschichte vom Turmbau zu Babel lesen wir, dass 
        die Menschen Angst hatten vor der Zerstreuung, Angst davor, in eine 
        Vielfalt von Völkern und Sprachen zu zerfallen. Babel ist somit ein 
        Prototyp der Angst vor der Vielfalt. Die Menschen suchen ihr zu begegnen 
        durch das Bauen einer abgegrenzten Stadt und eines sie überragenden 
        Turms, der bis an den Himmel reicht und so Gottesnähe sichern soll.
        Die heutige Angst vor dem Fremden, die Angst vor 
        Selbstverlust durch Vielfalt und Zerstreuung, die Angst vor zuwenig 
        Profil und die darauf folgende Einigelung folgen dem Muster von Babel. 
        Dabei versucht man durch ideologische Turmbauten, Gott für sich allein 
        zu vereinnahmen.
        Gottgewollte 
        Vielfalt
        Es ist in diesem Text, entgegen landläufiger 
        Auslegung, aber nicht von einer Strafe Gottes die Rede. Hingegen davon, 
        dass Gott herab fährt und die Einheit der Sprache und die 
        Geschlossenheit des Siedlungsraumes aufbricht. Gott zerstreut die 
        Menschen über die ganze Erde, heisst es zusammenfassend in Vers 11. Er 
        befreit sie damit auch vom Zwang zum Turmbau. Als mitgehender und den 
        Weg weisender Gott begleitet er die Menschen auf ihren Wegen in die 
        Horizontale des Lebens
        Damit ist Gott, und nicht der Mensch, die Ursache der 
        Vielfalt von Sprachen, Kulturen und wohl auch Religionen. Gott zerbricht 
        die Kleinräumigkeit und Einheitlichkeit. Er zerbricht die 
        Vereinnahmungsversuche durch eine einzelne Menschengruppe. Gott selber 
        verursacht und begleitet die Globalisierung und Pluralisierung des 
        Menschen.
        Eine sehr moderne Geschichte, dieser Turmbau zu Babel!
        Grenzen 
        überwunden
        Es ist interessant, dass das Pfingstwunder in 
        Apostelgeschichte 2 die Vielfalt der Sprachen und Kulturen nicht 
        rückgängig macht. Sondern das Pfingstereignis besteht darin, dass die 
        vom Geist ergriffene Predigt des Evangeliums über alle kulturellen und 
        sprachlichen Grenzen hinweg verstanden wird, und dass sie bei einer 
        Vielfalt von Menschen Glauben wirkt.
        So besteht denn bereits die frühe Christenheit aus 
        Glaubenden vieler Ethnien und Länder, aus Gliedern unterschiedlicher 
        Glaubensgeschichten und unterschiedlichem Glaubensvollzug.
        Gottes Geist ist frei und dem Menschen unverfügbar. Er 
        weht, wo und wann er will – vielfältig und grenzenlos. Auf mannigfache 
        Weise ergeht sein Ruf, überwindet er die Grenzen zwischen Religionen und 
        Kulturen.
        
          
        
        Der leicht redigierte Text ist der Predigt
        «In der Vielfalt zuhause» entnommen, welche
        Kirchenratspräsident Dölf Weder im Juni 2006
        vor der Abgeordnetenversammlung des
        Schweiz. Evang. Kirchenbundes (SEK) hielt.