Gottesdienst an der 
        Abgeordnetenversammlung des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes 
        (SEK)
        Sonntag, 18. Juni 2006, St. Laurenzen, St. Gallen,
        Predigt Pfr. Dr. Dölf Weder, Kirchenratspräsident
        
        
        
        
          
      
      
      
      Vielfalt - Einheit - Einheitlichkeit
      
       
      
      Liebe Mitchristinnen und Mitchristen
      
      Vor 6 Wochen feierten wir hier in St. Gallen den 12. 
      ökumenischen Bodenseekirchentag. Mehrere tausend Menschen haben ein 
      Wochenende lang miteinander diskutiert, miteinander gesungen und getanzt, 
      miteinander gebetet und miteinander Gottesdienst gefeiert. Eine grandiose 
      internationale und ökumenische Vielfarbigkeit, gelebt in beeindruckender 
      geistlicher Einheit unter dem Leitwort: „In der 
      Vielfalt zuhause“.
      
      Ich glaube, dass es an der Zeit ist, dass wir Christinnen 
      und Christen hierzulande den Reichtum der Vielfalt neu schätzen lernen. 
      Dass wir uns in der Vielfalt zuhause fühlen. Als Evangelische sollten wir 
      Vielfalt geradezu zu unserem Markenzeichen machen - so nach dem Motto:
      „Wir Reformierten – da wo die Vielfalt zuhause 
      ist“.
      
      Das Problem ist nicht, dass es keine Vielfalt gäbe. 
      Vielfalt ist in Gesellschaft und Kirche allgegenwärtig. Das Problem ist, 
      dass wir wegen des Rufes nach Einheit entgegen unseren Beteuerungen 
      Vielfalt zu wenig schätzen, uns über sie ärgern oder Angst vor ihr haben.
      
      In der neueren Kirchengeschichte wird Vielfalt oft als 
      fehlende Einheit verstanden. Einheit erscheint dann erstrebenswerter als 
      Vielfalt.
      
      Vielfalt ist aber keine defizitäre Einheit. Vielfalt ist 
      kein Zugeständnis an mangelnde Einheit. Vielfalt und Einheit sind nämlich 
      keine Gegensätze.
      
      Die verbreitete und oft unbewusste Abwertung von Vielfalt 
      ist nachvollziehbar auf dem Hintergrund des nicht immer einfachen 
      ökumenischen Dialogs. Unterschiedlichkeit bedeutet im ökumenischen Kontext 
      meist Zugehörigkeit zu unterschiedlichen, sich gegenseitig kritisierenden 
      Kirchen, Gruppen und theologischen Richtungen. Diese Kirchen und Gruppen 
      stehen unter dem Druck, sich selber definieren und von anderen abgrenzen 
      zu müssen.
      
      Ist die Einheits-Vorstellung dann noch verbunden mit dem 
      Ideal institutioneller Kirchen-Einheit oder mit der Forderung nach 
      einer einheitlichen dogmatischen Doktrin, dann wird Vielfalt 
      schnell zu defizitärer Einheit, zu noch nicht erreichter Einheit. Vielfalt 
      ist dann eine Art Übergangslösung, eine zu überwindende Komplikation beim 
      Verhandeln von mehr Einheit.
      
      Die berühmte „Einheit in versöhnter Vielfalt“ ist zwar ein 
      schöner Gedanke und theologisch nicht falsch. Aber der Ausdruck bedeutet 
      auch eine Einschränkung. Eine Einschränkung des Wertes von Vielfalt an 
      sich. Vielfalt wird mit diesem Satz versöhnungsbedürftig; Vielfalt ist 
      erst okay als versöhnte Vielfalt.
      
      Ich bestreite, dass Vielfalt versöhnungsbedürftig ist. 
      Versöhnungsbedürftig sind jene Kirchen und Theologen, welche an den andern 
      ihr Anders-Sein kritisieren und Vielfalt nicht ertragen. 
      Versöhnungsbedürftig aber ist Vielfalt an sich nicht, zumal wenn 
      Einheit sie begleitet.
      
      Die Abwertung von Vielfalt hat einen zweiten Grund. Er 
      verbündet sich unheilvoll mit dem ersten.
      
      Moderne Gesellschaften lieben einfache, klare Profile. Man 
      soll in einem kurzen Satz verbindlich sagen können, wofür man steht. Und 
      man soll sich von andern abgrenzen. Man denkt gern in Schwarz und Weiss. 
      Das öffentliche Leben hat sich polarisiert. Differenzierte Zwischentöne 
      und Vielfarbigkeit haben es heute schwer. Sie stehen unter dem Verdacht 
      eines fehlenden Profils. Und sie sind wenig medienwirksam.
      
      Und so hören wir auch im schweizerischen reformierten Raum 
      den Ruf nach einem klareren reformierten Profil, nach einem neuen 
      verbindlichen Bekenntnis, nach mehr schweizweiter Verbindlichkeit 
      überhaupt, nach Leader-Persönlichkeiten (oder gar einem Bischof), welche 
      dieses Profil vertreten und personifizieren sollen.
      
      Kirchenleitungen fragen sich, wie sie der von ihnen 
      diagnostizierten Beliebigkeit, dem angeblichen Mangel an Profil und 
      Einheitlichkeit begegnen können.
      
      Und damit ist das dritte Stichwort im Bund gefallen: Mangel 
      an Einheitlichkeit. Der Vorwurf, jeder mache, was ihm passe.
      
      Einheit und Einheitlichkeit sind aber sorgfältig 
      voneinander zu unterscheiden. Einheit verlangt keine Einheitlichkeit. 
      Einheit verlangt keine Uniformität. Einheit gibt es auch in der Vielfalt.
      
      Vielfalt und Einheitlichkeit schliessen sich 
      gegenseitig aus. Vielfalt und Einheit aber müssen sich nicht 
      ausschliessen. Im Gegenteil: Vielfalt kann besonders lebendige Einheit 
      bewirken. In der Vielfalt kann man sich auch zuhause fühlen.
      
      Das merkt man neuerdings auch im säkularen Bereich. Die 
      Universität St. Gallen, zum Beispiel, zählt in Verfolgung ihres neuen 
      Leitbildes 2010 als eines ihrer wichtigen Ziele auf, die Vielfalt ihrer 
      Studierenden zu erhöhen. Das Ziel lautet: „Erhöhung der Diversität der 
      Studierenden“. Dasselbe gilt für die Professorenschaft.
      
      Andreas Hellmann,  der Präsident der Studentenschaft der 
      Universität St. Gallen, hat dieses Ziel jüngst in einer Rede mit seiner 
      Vision illustriert, dass künftig an jeder Ecke des Uni-Campus eine Gruppe 
      von Studierenden in einer anderen Sprache diskutiert, andere Ideen in den 
      weltweiten Dialog einbringt.
      
      Es geht unserer St. Galler Universität also um Bereicherung 
      durch denkerische und interkulturelle Vielfalt, durch die Kreativität 
      vielfarbiger Persönlichkeiten.
      
      Hier hat eine der europäisch führenden 
      Wirtschaftsuniversitäten den Reichtum und die Bereicherung durch Vielfalt 
      erkannt. Und dieser Universität fehlt mit Sicherheit gerade damit nicht 
      ein klares Profil.
      
      Ich glaube, und ich habe es selber erlebt, dass solches 
      angstfreies Zuhause-Sein in lebendiger Vielfalt ein besonderes Kennzeichen 
      christlichen Lebens und Glaubens sein kann. Und ich bin überzeugt, dass es 
      auch den Grundstrukturen biblischer Existenz und evangeliumstreuen 
      Glaubens entspricht.
      
      Der Berner Theologiestudent Daniel Locher hat diese 
      Erfahrung nach seiner Teilnahme an der letztjährigen Vollversammlung des 
      Ökumenischen Rates der Kirchen in Porto Alegre auf den Punkt gebracht:
      
       „Was das ‚Ökumenische’ anbelangt, so habe ich eine 
      Schlüsselerfahrung gemacht: Einheit gibt es nur in Verschiedenheit. Und 
      das ist auch gut so. Denn es ermutigt dazu, die Augen, Ohren und Herzen 
      für unsere Nächsten zu öffnen. Der Leib Christi ist bestimmt grösser als 
      unsere eigene Konfession.“          
      
      
      Das gilt für Vielfalt zwischen den Konfessionen, und für 
      Vielfalt innerhalb der Konfessionen.
      
      Bevor ich einige biblische Linien ziehe, hören wir eine 
      Orgel-Improvisation von Ruedi Lutz zu 
      „Einheitlichkeit – Vielfalt – Vielfalt in Einheit“.
       
      
      Die vielfältigen 
      Sichtweisen Gottes 
      
      In den letzten Monaten habe ich mit vielen Kolleginnen und 
      Kollegen darüber diskutiert, wie die Bibel mit Vielfalt umgeht, und an 
      welchen Texten sich das biblische Verständnis von Vielfalt zeigen lässt.
      
      Wir taten uns schwer mit dieser Frage. Dass Vielfalt ein 
      wichtiges biblisches Prinzip ist, war uns sofort klar. Aber wo ist der 
      Textbestand dazu?
      
      Sofort in den Sinn kommen einem Römer 12 und 1. Korinther 
      12 mit dem Bild vom Leib Christi und seinen vielfältigen Gliedern. Eng 
      damit verbunden ist die Charismenlehre des Apostels Paulus. Er verweist 
      auf die grosse Vielfalt der Gaben Gottes, welche die Gemeindeglieder je 
      auf ihre Weise zur Auferbauung der Gemeinde einsetzen sollen.
      
      Markus Anker, unser Uni-Pfarrer, hat für seine Predigt am 
      Bodenseekirchentag zum Thema „In der Vielfalt zuhause“ 1. Korinther 12 als 
      biblischen Bezug gewählt. Mich hat einer seiner Sätze so tief beeindruckt, 
      dass ich während der Predigt mein Notizbuch hervor nahm und ihn mir 
      notierte:
      
      „Wer dem Geist Gottes Raum zum Wirken gibt, der muss mit 
      Vielfalt rechnen. Monotonie, Eintönigkeit ist seine Sache nicht, sondern 
      in der Vielstimmigkeit erklingt dieser Geist.“
      
      Neben diesen Paulus-Texten fallen einem kaum noch Stellen 
      ein, die explizit etwas zu Vielfalt sagen. Auch die Konkordanz hilft nicht 
      weiter. Ist der Bibel Vielfalt gar nicht wichtig?
      
      Eine zweite Denk-Runde bringt neue Erkenntnis: Für die 
      Bibel mit ihrer Vielzahl von Verfassern ist Vielfalt etwas so 
      Selbstverständliches, dass sie einfach vorausgesetzt und nicht explizit 
      thematisiert wird. Vielfalt ist eine Grundstruktur der Bibel.
      
      Das beginnt mit der Schöpfung. Genesis 1 beschreibt die 
      Vielzahl der Pflanzen, Gewächse und Samen, „je nach ihrer Art“, das 
      Wimmeln der Wassertiere und die Vögel, „je nach ihrer Art“. Dann 
      all die anderen lebenden Wesen, „Vieh, kriechende Tiere und Wild des 
      Feldes, je nach ihrer Art.“ Diese Vielfalt der Schöpfung bleibt 
      dank der Arche Noah durch die Tragödie der Sintflut hindurch erhalten.
      
      Nur der Mensch ist und bleibt allein in seiner Art. Aber 
      auch bei ihm entwickelt sich Vielfalt. Im Verlauf der Geschichte tauchen 
      die verschiedensten Persönlichkeiten, die verschiedensten Lebenskonzepte 
      auf.
      
      Vielfalt beim Menschen ist nicht Vielfalt der Arten, 
      sondern Vielfalt der Persönlichkeiten und der Lebensgestaltung, vor allem 
      aber Vielfalt der Gottesbeziehung und der Art, wie Gottesglaube gelebt, 
      oder nicht gelebt wird.
      
      In der Geschichte vom Turmbau zu Babel lesen wir, dass die 
      Menschen Angst hatten vor der Zerstreuung, Angst davor, in eine Vielfalt 
      von Völkern und Sprachen zu zerfallen. Babel ist ein Prototyp der Angst 
      vor der Vielfalt. Die Menschen suchen ihr zu begegnen durch das Bauen 
      einer abgegrenzten Stadt und eines sie überragenden Turms, der bis an den 
      Himmel reicht und so Gottesnähe sichern soll.
      
      Die heutige Angst vor dem Fremden, die Angst vor 
      Selbstverlust durch Vielfalt und Zerstreuung, die Angst vor zuwenig 
      eigenem Profil und die darauf folgende Ein-Igelung folgen dem Muster von 
      Babel. Dabei versucht man durch ideologische Turmbauten, Gott für sich 
      allein zu vereinnahmen.
      
      Es ist in diesem Text, entgegen landläufiger Exegese, nicht 
      von einer Strafe Gottes die Rede. Hingegen davon, dass Gott herab fährt 
      und die Einheit der Sprache und die Geschlossenheit des Siedlungsraumes 
      aufbricht. Gott zerstreut die Menschen über die ganze Erde, heisst es 
      zusammenfassend in Vers 11. Er befreit sie damit auch vom Zwang zum 
      Turmbau. Als mitgehender und den Weg weisender Gott begleitet er die 
      Menschen auf ihren vielfältigen Wegen in der Horizontalen des Lebens.
      
      Damit ist Gott, und nicht der Mensch, die Ursache 
      der Vielfalt von Sprachen und Kulturen. Gott zerbricht die Kleinräumigkeit 
      und Einheitlichkeit. Er zerbricht die Vereinnahmungsversuche durch eine 
      einzelne Menschengruppe. Gott selber verursacht und begleitet die 
      Globalisierung und Pluralisierung des Menschen. Eine sehr moderne 
      Geschichte, der Turmbau zu Babel!
      
      Es ist interessant, dass das Pfingstwunder in 
      Apostelgeschichte 2 diese Vielfalt der Sprachen und Kulturen nicht 
      rückgängig macht. Sondern das Pfingstereignis besteht darin, dass die vom 
      Geist ergriffene Predigt des Evangeliums über alle kulturellen und 
      sprachlichen Grenzen hinweg verstanden wird, und dass sie bei einer 
      Vielfalt von Menschen Glauben wirkt. So besteht denn bereits die frühe 
      Christenheit aus Glaubenden vieler Ethnien und Länder, aus Gliedern 
      unterschiedlicher Glaubensgeschichte und unterschiedlichem 
      Glaubensvollzug.
      
      Gottes Geist ist frei und dem Menschen unverfügbar. Er 
      weht, wo und wann er will - vielfältig und grenzenlos.
      
      Unser erstes Resultat lautet also: Gott selber schuf die 
      Vielfalt seiner Schöpfung und die Globalisierung und Pluralität des 
      Menschen.
      
      Das Evangelium Jesu Christi erreicht die Menschen in ihrer 
      Verschiedenheit. Es führt sie in vielfältige Formen von Glaubensvollzug 
      und zum Einsatz vielfältiger Gaben. Diese vielfältigen Menschen sind alle 
      eins in der Einheit des Leibes Christi.
      
      Ein zweiter biblischer Sachverhalt ist zu erwähnen: Die 
      Tatsache, dass im Alten und im Neuen Testament immer wieder verschiedene 
      Fassungen derselben Geschichte oder Thematik nebeneinander gestellt sind - 
      so bei den vier Evangelien - oder ineinander verwoben sind - so zum 
      Beispiel bei der Schöpfungs- und Urgeschichte. Diese Variationen desselben 
      Themas oder Geschehnisses stehen nicht selten in Spannung oder in offenem 
      Widerspruch zu einander. Sie vertreten unterschiedliche Theologien.
      
      Die Bibel beschreibt grundlegende Antworten auf den Ruf des 
      Glaubens. Aber sie entwirft keine einheitliche Dogmatik. Und schon gar 
      keine widerspruchsfreie. Das versuchen nur die konfessionellen Kirchen zu 
      tun.
      
      Die Bibel kennt einen anderen Ansatz, der Wahrheit Gottes 
      gerecht zu werden: Sie stellt verschiedene Sichtweisen Gottes und Christi 
      nebeneinander, webt sie sogar ineinander. Jede dieser Sichtweisen 
      verkörpert eine Weise, Gott zu verstehen und auf das Heilsgeschehen 
      Jesu Christi zu reagieren. Jede hat ihre Legitimität. Auch wo sie sich 
      gegenseitig reiben oder widersprechen.
      
      Und damit sind wir eben wieder bei der Bedeutung von 
      Vielfalt für den Glauben. Mit jedem Versuch, diese Vielfalt um eine 
      Sichtweise einzuschränken, verschwindet eine Möglichkeit, Welt zu denken, 
      Gott zu verstehen, Jesus Christus zu glauben.
       
      
      Wassertropfen 
      Gottes im Tanz des Regenbogens
      
      Ich schliesse mit einem Bild, das mich seit langem auf dem 
      Weg mit der Vielfarbigkeit christlich Glaubender begleitet: Es ist der 
      Regenbogen.
      
      Im Regenbogen bricht sich das eine Licht Gottes in 
      die Vielfarbigkeit der Menschen. 
      
      Jedes von uns ist ein Wassertropfen. Wir schillern in 
      vielfältigen Farben. Unsere persönliche Farbe verändert sich in der Zeit. 
      Auch reflektieren wir die Farben der uns umgebenden Wassertropfen.
      
      Die Vielfalt der Farben von uns Wassertropfen aber, hat 
      seinen Grund in der Einheit des einen göttlichen Lichtes, das uns 
      Farbe und Leben gibt.
      
      Wir sind Wassertropfen Gottes im Tanz des Regenbogens.
       
      
      Liebe Gemeinde
      
      Vielfalt neu entdecken. Vielfalt neu schätzen. In der 
      Vielfalt zuhause sein. Denn die Vielfalt ist gottgewollt. 
      
      Die eigene Farbe erkennen, sich an den anderen Farben 
      freuen. Sich eins wissen im einen Licht Gottes. Denn unsere Vielfarbigkeit 
      ist gottgewollt.
      
      Wir sind Wassertropfen Gottes im Tanz des Regenbogens.
      
      Amen.
      
      [Orgel-Improvisation:
        „Wassertropfen Gottes im Tanz des Regenbogens“]