Pfarrkirche Zuzwil, 5. Januar 2007
        Pfr. Dr. Dölf Weder, Kirchenratspräsident 
         
        Einleitung:       Thema und 
        CVP Parteiprogramm
      Sehr geehrte 
      Politikerinnen und Politiker der CVP
      Zuerst ganz herzlichen 
      Dank, dass ich als evangelischer Kirchenratspräsident und Theologe zu 
      Beginn dieses wichtigen Wahljahres die Gelegenheit erhalte, einige 
      Gedanken an Sie zu richten. Sie haben sich entschlossen, an diesem 
      Neujahrsempfang nicht nur einige Nettigkeiten zu hören. Sondern Sie haben 
      mir ein mich und Sie herausforderndes Thema gestellt: „Die CVP Politik aus 
      Sicht der Kirchen“. Ich will mich dieser Herausforderung nicht entziehen 
      und Sie nicht nur mit Oberflächlichkeiten abspeisen.
      Lassen Sie mich beginnen 
      mit zwei Vorbemerkungen und einem Geständnis:
      1. Vorbemerkung:
      Auch wenn diese Neujahrsbegrüssung hier in einer Kirche stattfindet, 
      erhebt mein Referat nicht den Anspruch, Verkündigung von Wort Gottes, also 
      Predigt, zu sein. Es ist ein persönlich gefärbter Diskussionsbeitrag, mehr 
      nicht. Was ich vortrage, ist eine dezidiert protestantische Sicht Ihrer 
      Partei. Ich hoffe, Sie halten mich nicht für einen kulturkämpferischen 
      Anti-Ökumeniker. Aber ich kann und will die konfessionelle Geschichte und 
      Prägung der CVP nicht ausblenden. 
      2. Vorbemerkung:
      Auch wenn ich hier als demokratisch gewählter Amtsträger unserer 
      Kantonalkirche spreche, vertrete ich keine offizielle Lehrmeinung. Die 
      gibt es bei uns Reformierten nämlich nicht. Sie hören meine eigene 
      Meinung. Ich habe mich entschlossen, diese Rede relativ persönlich und in 
      direkten, offenen Worten zu halten. Das macht mich verletzlich. Ich hoffe, 
      Sie werden mich nachher nicht allzu sehr zerzausen. 
      Und nun das Geständnis:
      Ich habe mich mit dem Verfassen dieses Referates wirklich schwer getan. So 
      viele Gedanken zur aktuellen politischen Situation gingen mir durch den 
      Kopf. Selten hat sich unser kantonaler Kirchenrat so viel mit politischen 
      Themen und Abstimmungen beschäftigt wie in den letzten drei Jahren. Jedes 
      meiner Vorworte zu den Amtsberichten unserer Kantonalkirche beschäftigte 
      sich in diesen Jahren auch mit der kirchlichen Verantwortung in der 
      gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen Situation. Wie aber 
      sollte ich all diese Themen und Gesichtspunkte bündeln und dazu noch dem 
      Thema „Die CVP-Politik aus Sicht der Kirchen“ gerecht werden? 
      Schlussendlich habe ich 
      all meine Gedanken beiseite geschoben und bei Ihrer Parteizentrale das 
      aktuelle schweizerische und das kantonale CVP-Parteiprogramm angefordert. 
      Die kannte ich bisher nur aus Zeitungsberichten.
      Und jetzt kam beim Lesen 
      die freudige Überraschung: Ich bin begeistert über das, was Sie da 
      schreiben. Da kommt mir eine moderne, offene, christlich fundierte Partei 
      entgegen. Ich könnte fast alles unterschreiben, was Sie als Ihre Ziele und 
      Werte beschreiben. Mit anderen Worten: Ich bin ein potentieller 
      CVP-Wähler!
      Wollen Sie einige 
      Beispiele?
      Da lese ich im 
      „Parteiprogramm der CVP Schweiz“ von einer „Charta für eine 
      liberal-soziale Schweiz: eine freie und solidarische Gemeinschaft“. Es 
      finden sich Sätze wie: „Die Gemeinschaft Schweiz steht auf dem 
      Fundament christlich-demokratischer Werte“, „Wir gestalten das 
      Zusammenleben gemäss einem christlichen Menschen- und Gesellschaftsbild. 
      Diese sind nicht an eine Konfession gebunden.“ „Wir setzen die 
      Menschenrechtskonvention um.“ „Unsere Reformen beruhen auf der sachlichen 
      Auseinandersetzung, auf unserer liberal-sozialen Grundhaltung [einmal 
      mehr ‚liberal-sozial’] und dem geordneten Zusammenleben der Menschen.“ 
      „Wir kämpfen für eine liberal-soziale nachhaltige Marktwirtschaft.“ Es 
      folgt dann eine ganze Reihe von interessanten Einzelforderungen. Und es 
      folgen viele Statements zur Förderung der Familien und der jungen 
      Menschen, Anliegen, die auch mir wichtig sind. Die Ausrichtung in diesen 
      Programmen gefällt mir.
       
      Frage 1:   Glaubwürdigkeit und 
      Orientierung am Gemeinwohl
      Nach meiner ersten 
      Begeisterung als potentieller CVP-Wähler kamen bei mir die Fragen. Vier 
      davon möchte ich mit Ihnen ansprechen:
      1. Frage: Meinen die das 
      ernst und setzen sie es auch um?
      Es ist die entscheidende 
      Frage nach der Glaubwürdigkeit Ihrer Parteiparolen. Ich glaube, dass diese 
      Frage heute von vielen Menschen gestellt wird.
      Mir fiel dazu eine 
      Randnotiz im St. Galler Tagblatt vom 8. Dezember 2006 in die Hände, Titel:
      „Zweifel an Politikern“. Darin lese ich:
      
        „Die Mehrheit der 
        Schweizer Bevölkerung zweifelt an der Integrität der Politiker. Trotzdem 
        ist sie der Ansicht, dass die Politik die Probleme des Landes lösen 
        kann, wie eine Univox-Studie zeigt. Laut der Mehrheit der Befragten 
        haben Politiker keine Prinzipien und sorgen sich kaum um die Anliegen 
        der Bürger. Vielmehr verfolgen sie eigene Interessen und buhlen um die 
        Wählerstimmen. …“
      
      Die Umfrage drückt einen 
      Eindruck im Land aus, dass viele Politikerinnen und Politiker vor allem an 
      ihrer Wiederwahl interessiert sind. Und dass sie vor allem als 
      Interessenvertreter funktionieren: von Bauern- über Industrie- bis zu 
      Grossfinanzinteressen. Wenig Orientierung am Gemeinwohl und an Prinzipien 
      und Werten also. Ob das tatsächlich so ist, sei dahin gestellt. 
      Wahrgenommen wird es jedenfalls so.
      Darum nocheinmal, liebe 
      CVP-Leute:
      Ist Ihr Parteiprogramm wirklich ernst gemeint? Kann ich mich als 
      potentieller CVP-Wähler darauf verlassen, dass Sie dann auch so abstimmen 
      und so handeln, wie Sie mir das in Ihrem Parteiprogramm verkaufen?
      Ich weiss, da ist zu 
      unterscheiden: Da sind die CVP-Leitungen und die 
      CVP-Delegiertenversammlungen. Die haben diese Programme verabschiedet. 
      Manche CVP Bundespolitiker und manche CVP Kantonspolitiker sehen die 
      Sachen vielleicht ein bisschen anders. Und da ist ja dann auch noch die 
      CVP-Wählerschaft, in sich sehr heterogen und vor allem in der 
      Innerschweiz und in der Ostschweiz stark vertreten, weniger in 
      den urbanen Zentren und Agglomerationen. Ob die alle dann auch bereit 
      sind, für diese Ziele an der Urne einzustehen? Und wenn die CVP 
      noch für ein Anliegen einsteht, ist es dann auch mehrheitsfähig? Welche 
      Kompromisse müssen eingegangen werden? 
      Nehmen wir einige 
      Beispiele:
      Ziel Nr. 59:
      
        „Wir tragen die von 
        der UNO im September 2000 verabschiedeten Milleniumsziele zur Bekämpfung 
        von Hunger und Armut sowie zur Verbesserung von Bildung, Gesundheit, 
        Gleichstellung und Qualität der Umwelt mit.“
      
      Wenn das ernst gemeint 
      ist, muss man in Bern aber noch zünftig Gas geben und auch noch einiges an 
      Finanzen locker machen!
      Ziel Nr. 60:
      
        „Wir führen unser 
        Engagement in der Entwicklungshilfe weiter. Die Schweiz muss ihre 
        Unterstützung der Drittwelt-Staaten über die wirtschaftliche 
        Zusammenarbeit ausbauen. Eine geordnete liberale Weltwirtschaft dient 
        der Entwicklung dieser Menschen. Das bedeutet die Aufhebung von 
        restriktiven Zollschranken – namentlich für Güter aus diesen Regionen.“
      
      Auch das ein ambitiöses 
      Ziel, das von uns Schweizern einige Opfer fordert. Werden zum Beispiel die 
      CVP Bauern da mitmachen? Wird man wenigstens wie versprochen dabei 
      bleiben, die Ostmilliarde nicht noch stärker zulasten der 
      Entwicklungszusammenarbeit zu finanzieren?
      Ziel Nr. 3.16:
      
        „Wir treten gegen 
        die massiven Preisunterschiede unserer Medikamente im Vergleich zu den 
        Nachbarländern an.“
      
      Wie war das jetzt gleich 
      mit dem Patentschutz in der Wintersession in Bern? Nach den Nachrichten in 
      Radio DRS bleibt sogar der Parallelimport von Samsonite Reisekoffern aus 
      Gründen des Patentschutzes verboten. Wie wird wohl die Bundesrat Blocher 
      als Hausaufgabe mitgegebene Vorlage zu den Parallelimporten aussehen? Und 
      in welcher Form wird sie schlussendlich die Räte passieren?
       Zum 
      Schluss noch ein Blick auf den Grundsatz
      
        „Die 
        Flüchtlingspolitik respektiert die Genfer Konvention und die Europäische 
        Menschenrechtskonvention“.
      
      Sie wissen, dass wir 
      Kirchen zusammen mit massgeblichen internationalen Gremien bei der letzten 
      Abstimmung zum Asyl- und Ausländerrecht in dieser Beziehung unsere grosse 
      Skepsis ausgedrückt haben. Das Schweizer Volk vertraute dem Parlament mit 
      deutlichem Mehr. Auch die Glaubwürdigkeit der CVP bleibt hier in der 
      Pflicht und unter Beobachtung.
       
      Frage 2:   Mein Bild von der CVP
      Liebe Neujahrsgäste,
      meine 1. Frage als 
      begeisterter potentieller CVP-Wähler ist für mich also die nach der 
      Glaubwürdigkeit Ihrer Verlautbarungen. Es ist eine heute sehr wichtige 
      Frage.
      Sie wird beantwortet 
      durch das Abstimmungsverhalten und die täglichen Taten Ihrer 
      CVP-Politikerinnen und Politiker auf allen Ebenen.
      Die 2. Frage 
      richte ich an mich selber:
      Warum hat mich die 
      Lektüre Ihres Parteiprogrammes so positiv überrascht? Wie und wodurch ist 
      mein CVP Bild geprägt?
      Ich komme aus einer 
      typisch protestantischen freisinnigen FDP Familie. Mein Vater war 
      Bau-Ingenieur mit eigener Firma, also ein selbständig erwerbender KMU-ler. 
      Selber habe ich mich immer als sozialen liberalen Menschen 
      betrachtet und auch entsprechend gewählt und abgestimmt. Das bedeutete 
      nicht immer Stimmen mit der FDP, aber früher oft – und in den letzten 
      Jahren immer seltener.
      Wir Reformierten waren ja 
      im letzten Jahrhundert über grosse Zeiten aufgeteilt auf zwei Parteien, je 
      nachdem, welcher Aspekt des Reformiertseins von jemandem stärker betont 
      wurde, der soziale oder der liberale. Einerseits gab es die 
      Sozialdemokraten; da waren und da sind die Reformierten, welche die erste 
      Priorität dem Sozialen beimessen und auch ein entsprechendes 
      Gesellschaftsbild haben. Auf der anderen Seite gab es jene Reformierten, 
      welche in erster Priorität eine liberale Einstellung und ein liberales 
      Gesellschaftsverständnis haben. Der traditionelle reformierte Liberalismus 
      hatte aber immer auch eine starke soziale und werteorientierte Komponente. 
      Das ist der Grund, warum diese Kreise heute Schwierigkeiten mit Teilen der 
      FDP haben und doch nicht Sozialdemokraten sein wollen. Vielleicht sind sie 
      heute potentielle CVP-Wähler.
      Die dritte grosse Kraft 
      war die CVP, früher noch katholisch-konservativ genannt. Hinzu kam ihre 
      kleine Schwester, die CSP. Sie beide waren in den Augen eines jungen 
      Protestanten, wie ich es war, zum einen dem relativ geschlossenen und sich 
      vor allem selber pflegenden katholischen Milieu zugehörig und zum zweiten 
      in ihren Werten konservativ und Rom-hörig. Wie lange zum Beispiel im 
      Kanton St. Gallen wegen der CVP noch das Konkubinatsverbot aufrecht 
      erhalten wurde oder wie entschieden man sich im Namen der 
      Familienförderung früher gegen Kinderhorte und familienergänzende 
      Massnahmen wehrte – um die Frauen zuhause bei den Kindern zu halten -, das 
      machte auf mich einen nachhaltigen Eindruck. Zu konservativ für meinen 
      liberalen reformierten Geist.
      Inzwischen ist die 
      Parteienlandschaft auch im Kanton St. Gallen in Bewegung geraten. Die 
      national-konservativen Kreise haben sich der SVP zugewandt. Auch die CVP 
      verlor substantiell Mitglieder an die SVP. Das ist eine Chance für sie. 
      Sie kann sich nun vorwärts gerichteter und liberaler definieren. Die EVP, 
      die Evangelische Volkspartei, blieb eine kleine Gruppe, eher 
      freikirchlicher Theologie nahe. Hinzu kamen die Grünen, die heute in der 
      grün-liberalen Variante auch für Sozial-Liberale eine Option darstellen.
      Zurück zu mir als 
      protestantischem, sozialem Liberalen und potentiellen CVP-Wähler. Aus 
      meiner 1. und 2. Frage folgt: Meint es die CVP wirklich ernst mit ihrer 
      neuen liberal-sozialen Ausrichtung oder ist das nur ein Trick, um 
      Protestanten und neue liberale Wähler im urbanen Milieu für sich zu 
      gewinnen?
      Meint die CVP mit 
      christlichen Grundwerten einfach traditionelle, katholisch-konservativ 
      geprägte Werte oder kann sie sich unter christlichen Werten auch offene 
      und liberale christlich verantwortete Werte vorstellen? Bezieht sich das 
      „liberal“ nur auf das favorisierte Wirtschaftsmodell oder auch auf eine 
      allgemein liberal-weltoffene Haltung?
      Ich habe mir diese 
      Thematik bei den letzten Wahlen im Internet auf der Smartvote-Website 
      genauer angeschaut. Da hat sich bei der CVP offensichtlich einiges bewegt. 
      Verschiedene CVP-ler erhielten denn auch meine Stimme. Im Schnitt reichte 
      es mir damals aber mit der Liberalität der CVP noch nicht. Aber wenn sie 
      wirklich Ernst macht mit ihrem Parteiprogramm und wenn sie unter 
      christlichen Werten nicht einfach traditionell-konservative Werte 
      versteht, ja dann wird sie eine für mich interessante Partei.
       
      Frage 3:   Die christliche 
      Werthaltung der CVP
      Damit sind wir schon 
      mitten drin in meiner 3. Frage ausgelöst durch das Parteiprogramm. 
      Es ist die Frage nach der christlichen Werthaltung der CVP.
      Das Thema meines Referats 
      lautet „CVP-Politik aus Sicht der Kirchen“. Bis jetzt habe ich ganz 
      ungeniert von mir selber geplaudert, mich quasi als ein mögliches 
      Beispiel der Spezies Protestant verwendet. Ich glaube, ich habe dabei 
      deutlich gemacht, dass es viele andere Protestanten gibt, Protestanten, 
      die ganz anders denken als ich. „Die“ Sicht der reformierten Kirche auf 
      die CVP gibt es also mit Sicherheit nicht. Und sie wissen ja auch, dass 
      wir Reformierten sehr Wert auf Mündigkeit und eigene Meinungen legen, 
      betreffe das nun die Theologie oder die Politik.
      Wichtig ist mir nun aber 
      die Verwendung der Mehrzahl „Kirchen“ im Titel dieses Referats. 
      Neben der Vielfalt der Reformierten, welche die reformierte Kirche bilden, 
      gibt es auch noch andere Kirchen, zum Beispiel die katholische Kirche. Mit 
      ihr arbeiten wir heute im Kanton St. Gallen ganz ausgezeichnet zusammen. 
      Ich betone immer wieder, dass wir hier im Kanton St. Gallen eine lebendige 
      „Ökumene des Alltages“ leben.
      Die katholische Kirche 
      hat in unseren reformierten Augen nur die kleine Unart, dass sie sich 
      immer als „die Kirche“ versteht. Das hat auch auf die Medien 
      abgefärbt. Achten Sie zum Beispiel einmal auf die Verwendung des Begriffes 
      „Kirche“ im St. Galler Tagblatt oder in nationalen Medien. Da wird immer 
      wieder ganz ungeniert von „Die Kirche hat…“ gesprochen, auch wenn 
      es bloss um die katholische Kirche geht. So als ob es in der Schweiz nicht 
      auch noch 2.4 Millionen Protestanten gäbe.
      Für uns Reformierte ist 
      es wichtig zu unterscheiden, ob wir von „Kirche“ im theologischen 
      Sinn sprechen oder ob wir eine Institution, die sich „Kirche“ 
      nennt, meinen.
      Theologisch gibt es auch 
      für uns nur eine Kirche. Sie ist der Leib Christi und zu ihr 
      gehören alle Menschen, die sich zu Jesus Christus bekennen. Diese eine 
      Kirche manifestiert sich aber in vielen Institutionen, die sich als 
      Kirchen verstehen. Die reformierten Kirchen in aller Welt gehören dazu, 
      die orthodoxen, die katholische Kirche usw. Ob die eine Kirche 
      Christi sich unbedingt auch in bloss einer Institution äussern 
      muss, kann man diskutieren. Für die Katholiken ist das so. Für sie ist die
      eine Kirche im theologischen Sinn und ihre 
      römisch-katholische Kirche als Institution identisch. Für uns 
      Reformierte ist Einheit in Christus auch in einer versöhnten Vielfalt 
      von Konfessionen und Kirchen denkbar. Ökumene verlangt für 
      uns also nicht unbedingt nach organisatorischer Einheit – aber danach, 
      sich gegenseitig und auch bei unterschiedlichen theologischen 
      Akzentuierungen als Brüder und Schwestern in Christus zu verstehen.
      Für eine Partei wie die 
      CVP ist das ein wichtiger Tatbestand. Sie beruft sich ja auf das „C“, auf 
      das Christliche. Wenn sich dieses Christliche und die damit verbundenen 
      christlichen Werte vollgültig nur in der offiziellen Lehrmeinung 
      der katholischen Kirche äussern würden, hätte die CVP ein Problem mit 
      Mitgliedern aus anderen Kirchen. Die sähen sich dann nämlich in dieser 
      Partei – obwohl sie sich als Christen verstehen – immer konfrontiert mit 
      dem Vorwurf eines gewissen christlichen Wertedefizits. Das motiviert nicht 
      zum Mittun und nicht zum CVP-Wählen.
      Ich habe aus diesem Grund 
      die letztjährigen Gespräche von CVP-Leitungen mit Bischofskonferenz und 
      Bischöfen, aber auch mit Leitungen reformierter Kirchen mit grossem 
      Interesse verfolgt. Unser Kirchenrat hat sich echt gefreut, als die 
      CVP-Parteileitung des Kantons St. Gallen auch ihn mit einem Besuch beehrte 
      und dabei auf ihre christliche und nicht bloss katholische Grundlage 
      verwies.
      Die CVP definiert sich 
      als Partei auf der Basis christlicher Werte. Wenn ich das richtig 
      interpretiere, wird sie sich dabei zunehmend bewusst, dass das bedeutet, 
      die Werte, die sie als christlich versteht, selber zu diskutieren 
      und selber zu verantworten, auch im Gegenüber zu den Kirchen.
      Konkret zeigte sich dies 
      beispielsweise in der Haltung der CVP zur Fristenregelung und zur 
      eingetragenen Partnerschaft gleichgeschlechtlicher Paare. Bei beiden 
      Vorlagen bezog die CVP die gleiche Position wie der Schweizerische 
      Evangelische Kirchenbund, unterschied sich damit aber von der 
      Stellungnahme der Bischofskonferenz.
      Konkret zeigte es sich 
      auch in der Haltung der CVP zur Revision des Asyl- und Ausländergesetzes 
      im letzten September. Da setzte sich die CVP in deutlichen Gegensatz 
      sowohl zur Haltung der katholischen wie der evangelischen Kirchen – und 
      dies mit der expliziten Erklärung, auch diese Position lasse sich auf der 
      Basis christlicher Werte legitimieren.
      Das führt zu einer 
      wichtigen Erkenntnis: Christliche Werte sind nicht immer so eindeutig, wie 
      wir das gerne hätten. Man kann als Christin und als Christ in Verfolgung 
      einer christlichen Wertehaltung durchaus auch zu unterschiedlichen 
      Ergebnissen kommen. Mein Lehrer in Sozialethik, der bedeutende Zürcher 
      Professor Arthur Rich, verdeutlichte uns das im Studium am Beispiel der 
      Atomkraftwerke. Er, selber Sozialdemokrat und Gegner von Atomkraftwerken, 
      machte deutlich, dass man in Verfolgung derselben christlichen Grundwerte 
      sehr wohl auch ein Ja zu Atomkraftwerken vertreten kann.
      Wenn ich mir hier 
      nocheinmal einen konfessionellen Hinweis erlauben darf – ich hoffe Sie 
      missverstehen mich nicht als alten Kulturkämpfer: Das soeben Gesagte ist 
      ebenfalls ein typisch protestantischer Zug. Die offizielle katholische 
      Kirche kennt eine stärker ausgebildete verbindliche Soziallehre mit 
      klaren ethischen Regeln. Denken Sie etwa an die Sexualethik. Bei den 
      Reformierten wird mehr dem Diskurs und der individuellen Verantwortung und 
      Gewissensentscheidung überlassen. Das Dialogprinzip ist uns Reformierten 
      deshalb sehr wichtig. Wir sind auch in dieser Beziehung eine Kirche des 
      Wortes. Im christlich und theologisch verantworteten Diskurs bildet man 
      sich seine eigene Meinung. Die kann von Person zu Person durchaus 
      unterschiedlich ausfallen. Dennoch ist das nicht Relativismus. Es geht 
      vielmehr darum, im Diskurs das in der heutigen Situation Gottgemässe 
      heraus zu kristallisieren. 
      Ich bin überzeugt, dass 
      diese Hochschätzung des Dialogs und des gesellschaftlichen Diskurses,
      und das Vertrauen in sie, auch für die Politik und namentlich für eine 
      C-Partei sehr wichtig sind. Ich möchte diesen Aspekt deshalb geschichtlich 
      und theologisch noch etwas vertiefen.
      Die Protestanten betonten 
      seit der frühen Reformationszeit die Mündigkeit und die Verantwortung des 
      einzelnen Menschen vor Gott und den Mitmenschen. Darum legte bereits der 
      Reformator Martin Luther die Bibel auch in die Hände von Nicht-Theologen, 
      und zwar in Deutsch, so dass sie sie verstehen konnten. Die Menschen 
      sollten sich ihre eigene Meinung bilden können. In St. Gallen fanden in 
      der Reformationszeit neben den Gottesdiensten sogenannte „Lesinen“ statt. 
      Sie waren sehr populär. In ihnen legte unter anderen der nicht ordinierte 
      Theologe Johannes Kessler biblische Texte in allgemein verständlicher 
      Sprache aus.
      Wir Reformierten trauen 
      den Menschen zu, ja, wir verlangen von den Menschen, dass sie sich ihre 
      eigene Meinung bilden, und dass sie für ihr Denken und ihr Handeln vor 
      Gott und ihren Mitmenschen selber die Verantwortung tragen. Man kann diese 
      nicht an eine Kirche oder Partei abtreten.
      Sie können sich 
      vielleicht noch an die umstrittene Plakatkampagne vor einigen Jahren 
      erinnern: Da waren Bilder zu aktuellen gesellschaftlichen Themen zu sehen 
      und darunter der Text: „Selber denken. Die Reformierten“.
      Das war überhaupt nicht 
      anti-katholisch gemeint, wenn es zum Teil in der Öffentlichkeit auch so 
      verstanden wurde. Es war vielmehr der Versuch, angesichts brennender 
      gesellschaftlicher Probleme den Menschen ein wichtiges reformiertes 
      Grundanliegen wieder neu bewusst zu machen. Dass auch Katholiken selber 
      denken können, ist selbstverständlich.
      „Selber denken“ setzt das 
      Gespräch, setzt den gesellschaftlichen Dialog voraus. Ich bilde meine 
      Meinung in der Auseinandersetzung mit anderen. Dialog bedeutet nicht 
      Verzicht auf die eigene Meinung, bedeutet auch noch nicht Einverständnis 
      oder Kompromiss.
      Echter Dialog setzt aber 
      Offenheit und Lernbereitschaft voraus. Populisten und Alles-besser-Wisser 
      haben ihn nicht nötig. Wer die Wahrheit bereits für sich selber reserviert 
      weiss, kann keinen echten Dialog führen.
      Dialog ist ein wichtiges 
      biblisches Prinzip. Das gilt bereits für die vertikale Beziehung 
      Gott-Mensch. Mit der Schöpfung des Menschen schuf Gott sich ein 
      dialogisches Gegenüber. Der christliche Glaube ist nichts anderes als das 
      Leben einer dialogischen Mensch-Gott-Beziehung. Darum darf ich zu Gott 
      „Du“ sagen und im Gebet mit ihm in Kontakt treten.
      Der Mensch wurde zudem 
      geschaffen als ein auf Mit-Menschen angelegtes Wesen. Menschliche Existenz 
      ist damit auch in der Horizontalen ganz wesentlich dialogische Existenz.
      Das eine ist zudem nicht 
      ohne das andere zu haben: Gottesnähe verweist mich immer auf die 
      Notwendigkeit von Nähe zu den Mitmenschen. Und nach biblischem Verständnis 
      verstehe ich die Menschen nur richtig, wenn ich sie im Licht von Gottes 
      Liebe zu ihnen sehe.
      Gottesnähe und 
      Menschennähe gehören zusammen. Unsere Kantonalkirche folgt darum der 
      Vision, eine Kirche „nahe 
      bei Gott – nahe bei den Menschen“ zu sein, so unser Leitwort -
      „nahe bei Gott – nahe bei den Menschen“.
      Christliche Existenz ist 
      ganz wesentlich dialogische Existenz – in der Vertikalen wie in der 
      Horizontalen.
      Damit ist jetzt eine 
      weitere Forderung gestellt an eine Partei, die das „C“ im Namen trägt: Die 
      Forderung, dass sie eine dialogische Partei sei. Dass sie im 
      gesellschaftlichen Diskurs das Gespräch suche. Dass sie ihre festen 
      Überzeugungen habe, aber dass sie nicht glaube, die Wahrheit für sich 
      allein gepachtet zu haben.
      Damit ist viel über die 
      notwendige Parteikultur gesagt: Eine Kultur des ernsthaften Dialogs und 
      der fairen, sachlichen Auseinandersetzung. Eine Kultur des Respekts vor 
      Andersdenkenden und vor politischen Gegnern. Eine Kultur des Vertrauens in 
      die Überzeugungskraft guter Argumente. Eine Kultur der Diskussion darüber, 
      was denn genau diese christlichen Werte heute meinen.
      Ich glaube, dass die 
      Schweiz wieder verstärkt eine solche dialogische Politkultur braucht. Die 
      gängigen politischen Gehässigkeiten und schrillen Medienkampagnen stiften 
      Unheil und schädigen die Glaubwürdigkeit der Demokratie. Die CVP kann und 
      soll auf der Basis ihrer christlichen Werteorientierung auch in dieser 
      Beziehung ein wichtiges Signal setzen.
      Sind Sie als CVP eine 
      Partei, die den Dialog pflegt und fördert?
      Ich stelle Ihnen eine 
      Gretchenfrage: Wie halten Sie es mit dem interkulturellen und 
      interreligiösen Dialog? Führen Sie den als Partei? Führen Sie auf Ihrer 
      jeweiligen Ebene Gespräche mit Muslimvertretern? Oder stimmen Sie 
      ebenfalls ohne echtes Gespräch ein in den lautstarken Chor der heute so 
      populären Gegner von Minaretten, von muslimischen Friedhofabteilen und von 
      Kopftüchern?
      Dialog bedeutet nicht das 
      Aufgeben eigener Überzeugungen. Dialog bedeutet das Aufnehmen eines echten 
      Gespräches, das Verstehen-Wollen und das gemeinsame, versöhnliche Finden 
      von Lösungen. Dialog ist die Konsequenz des christlichen Grundwertes, 
      meinen Nächsten zu lieben wie mich selbst – egal welchen Glauben oder 
      welchen Pass er hat.
       
      Frage 4:   Gesellschaftliche 
      Gemeinsamkeiten und moralische Substanz
      Ich komme nun zu meiner
      4. und letzten Frage, die sich mir aus Ihrem Parteiprogramm ergibt: 
      Braucht es denn heute noch christliche Grundwerte in unserer Gesellschaft? 
      Und falls ja, wer sorgt dafür, dass es sie auch morgen noch gibt?
      Ich trage Ihnen 
      einleitend ein inzwischen sehr bekanntes Zitat von Ernst-Wolfgang 
      Böckenförde vor, einem ehemaligen Richter am deutschen 
      Bundesverfassungsgericht. Er sagte:
      
        „Der freiheitliche 
        säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht 
        garantieren kann. Das ist das grosse Wagnis, das er, um der Freiheit 
        willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Statt kann er … nur 
        bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von 
        innen her, aus der moralischen Substanz des Einzelnen und der 
        Homogenität der Gesellschaft, reguliert.“
      
      Böckenförde nennt also 
      zwei Elemente, die der freiheitliche und säkularisierte(!) Staat für 
      seinen Weiterbestand nötig hat: „moralische Substanz des Einzelnen“ und 
      „Homogenität der Gesellschaft“.
      Woher kommen diese beiden 
      Lebenselixiere? Und wer sorgt dafür, dass es diese moralische Substanz und 
      diese gesellschaftlichen Gemeinsamkeiten auch morgen noch gibt?
      Ich mache wieder einen 
      kurzen Exkurs in die Geschichte, diesmal ins Jahr 1803, ins Jahr der 
      Gründung des Kantons St. Gallen.
      Am 15. April 1803 war die 
      erste Kantonsregierung unter dem Vorsitz von Müller-Friedberg gewählt 
      worden. Nur 6 Tage später bereits richtete der evangelische St. Galler 
      Dekan Pfr. Peter Stähelin an den neu gewählten Rat ein Gesuch um eine 
      gesetzliche Regelung des Kirchenwesens. Damals wurde – soll ich sagen: 
      noch? – sehr speditiv legiferiert. Bereits zwei Monate später, am 29. Juni 
      1803, beschloss der Grosse Rat auf Antrag der Regierung ein Kirchengesetz, 
      das in weiten Teilen Pfr. Stähelins Vorschlägen folgte. Und schon am 19. 
      und 20. September 1803 versammelte sich die erste reformierte 
      Kirchensynode unseres Kantons. Diese erste Tagung unseres kantonalen 
      Kirchenparlaments bedeutete zugleich die Gründung der Evang.-ref. Kirche 
      des Kantons St. Gallen.
      Auch heute noch von ganz 
      aktueller Wichtigkeit scheint mir dabei die Präambel zu diesem 
      Kirchengesetz zu sein, verfasst vom Regierungsrat, beschlossen vom Grossen 
      Rat. Ich zitiere:
      
        „Die 
        Regierungs-Räthe des Kantons St. Gallen.
        In Beherzigung, dass die religiöse und sittliche Bildung des Volkes 
        das Glük des Staates befestnet;
        Dass es daher die heiligste Pflicht jeder Regierung ist, die 
        Verbesserung dieses wohlthätigen Zustandes mit bestrebendem Eifer zu 
        bewirken.
        … schlagen vor als Gesetz: ...“
      
      Dann folgen die 
      Einzelbestimmungen.
      Wir finden hier eine 
      tiefe Überzeugung unserer Kantonsgründer. Müller-Friedberg, wie viele der 
      damals führenden Staatsmänner im Kanton, waren Katholiken. Aber sie waren 
      vom Geist der Aufklärung beseelt. Aus ihm heraus gestalteten sie den 
      jungen Staat. Und mit dem gleichen aufgeklärten Denken wollten sie auch in 
      den Kirchen einen Reformprozess auslösen. Wir verdanken dem Denken dieser 
      Männer unter anderem, dass wir uns heute im Kanton St. Gallen nicht wie in 
      anderen Kantonen mit dem problematischen Erbe eines Staatskirchentums 
      auseinander setzen müssen. Die Kirchen sind bei uns im Rahmen 
      demokratischer Spielregeln weitgehend selbständig. So will es auch die 
      neue Kantonsverfassung.
      Aber unsere 
      Kantonsgründer waren auch überzeugt, dass das Glück des Staates religiöse 
      und sittliche Bildung des Volkes voraussetzt. Und als geeignetste 
      Institutionen, solche Bildung zu befördern, sahen sie die beiden Kirchen. 
      Wir haben das in der Gesetzespräambel deutlich formuliert gefunden. Die 
      den Kirchen von der Regierung zugedachte Rolle wurde bestätigt durch den 
      Titel der Rede, welche der regierungsrätliche Kanzleidirektor Julius 
      Hieronymos Zollikofer als Vertreter der Regierung am 20. September 1803 
      vor der ersten Synode unserer Kantonalkirche im St. Galler Rathaus hielt. 
      Sie trug den programmatischen Titel „Rede über den Einfluss der Religion 
      und Sittlichkeit auf das allgemeine Wohl“.
      Bildung in Religion und 
      Ethik als Voraussetzung für das öffentliche Wohl. So also die Meinung der 
      Politik 1803 bezüglich der Rolle der Kirchen im neu gegründeten Kanton. 
      Wie weit aber gilt das heute noch?
      Ich könnte jetzt etwas 
      maliziös an die Debatten vom Jahr 2003 in unserem Kantonsrat erinnern. Da 
      wurde von einer Ratsmehrheit in einer eigentlichen Sparhysterie gefordert, 
      den Mittelschulunterricht in Religion und Ethik abzuschaffen. Das geschah 
      dann glücklicherweise dank der klaren Haltung der Regierung nicht. Aber 
      die Sache führte immerhin zu einer Kürzung dieser Stunden um 25%. Ist die 
      Meinung unserer Kantonsgründer von der Bildung in Religion und Ethik als 
      Voraussetzung für das öffentliche Wohl heute überholt? Sind solche 
      Kürzungen die Antwort unserer Politik auf die Orientierungslosigkeit und 
      Gewaltbereitschaft vieler Jugendlicher? Wie haben die CVP Kantonsräte 
      damals abgestimmt?
      Die Kirchen haben in den 
      letzten Jahrzehnten stark an gesellschaftlichem Einfluss eingebüsst. Ich 
      spreche jetzt gar nicht nur von den Kirchenaustritten und vom 
      Gottesdienstbesuch. Man könnte sich ja auch fragen, wie viele Menschen 
      heute aus dem staatlichen Gemeinwesen austreten würden, wenn sie 
      das bloss könnten. Die Steuerersparnis wäre ja noch etwas grösser als bei 
      den Kirchensteuern. Auch Veranstaltungen der politischen Parteien sind 
      kaum mehr grosse Publikumsrenner.
      Überall steht das Gleiche 
      im Hintergrund: eine zunehmende Individualisierung und Materialisierung 
      unserer Gesellschaft, Maximierung des eigenen Vorteils – übrigens durchaus 
      auch bei Politikern und ihren Lobbies zu finden – und Bedeutungsverlust 
      des Einsatzes für das Gemeinwesen. Solche und andere gesellschaftliche 
      Entwicklungen machen auch den Kirchen gehörig zu schaffen.
      Die Kirchen sind nicht 
      für Gesetze und politische Massnahmen zuständig. Dafür gibt es 
      Politikerinnen und Politiker mit ihren Parteien. Die Aufgabe der Kirchen 
      ist eine andere, eine grundsätzliche. Die sollen sie deutlich 
      vernehmbar wahrnehmen.
      Wache und nachdenkende 
      Menschen wissen, dass eine Gesellschaft einen gemeinsamen Bestand an 
      Grundwerten und Grundüberzeugungen haben muss, soll sie nicht in 
      Desintegration und schleichende Auflösung geraten. Es braucht Orte, wo 
      miteinander darüber nachgedacht und diskutiert wird. Der damalige 
      Regierungspräsident, Hans-Ulrich Stöckling, hat das im Jahr 2003 in seiner 
      Gratulationsadresse an der Jubiläumsfeier der reformierten Kantonalkirche 
      deutlich formuliert und den Beitrag der Kirchen hierzu gewürdigt.
      Wir Kirchen können heute 
      solche christlich verantworteten Werte und Überzeugungen freilich nicht 
      mehr einfach autoritär behaupten und gesellschaftlich durchsetzen. Aber 
      wir können, und wir wollen, solche Werte und Überzeugungen auch weiterhin 
      in den gesellschaftlichen Diskurs einbringen – als eine Stimme 
      unter vielen. Ich bin dabei überzeugt: Wahrheit wird sich letztlich als 
      Wahrheit erweisen. In diesem Sinne glaube ich, dass die Vorstellung 
      unserer Kantonsgründer, dass die Kirchen in der Gesellschaft – neben dem 
      Angebot von Christusgemeinschaft – die wichtige Funktion haben, religiöse 
      und sittliche Bildung zu betreiben, durchaus auch heute noch ihre 
      Berechtigung hat. Ich hoffe, dass die Kirchen damit auch die Politik 
      beeinflussen.
      Was bedeutet das für die 
      CVP, so sie denn eine auf christlichen Werten basierende C-Partei sein 
      will? Es bedeutet zum Beispiel, dass sie sich dafür einsetzen soll, dass 
      die jungen Menschen sich während ihrer Schulzeit intensiv mit Fragen der 
      Ethik und des Glaubens auseinandersetzen. Junge Menschen dürfen nicht 
      schutzlos bloss den Botschaften des Schulhofes, den Gewalt- und 
      Porno-Videos ausgeliefert sein.
      Wir Reformierten betonen 
      immer wieder die Mündigkeit und Selbstverantwortung des Menschen. Aber das 
      setzt ethische Kompetenz voraus. Wo in unserer Gesellschaft erwerben 
      unsere Jungen heute solche ethische Kompetenz? Wo sind die Vorbilder in 
      dieser Beziehung? Das hat mit Werten zu tun.
      Solche ethische und 
      weltanschauliche Auseinandersetzung geschieht nicht nur in der Form von 
      Religionsunterricht. Sie muss sich quer durch alle Fächer ziehen. Aber sie 
      soll auch in der Form eines qualitativ hoch stehenden christlichen 
      Religionsunterrichts angeboten werden. Und für Schülerinnen und Schüler, 
      die diesen nicht besuchen wollen, müssen stundenmässig gleichwertige, 
      nicht abwählbare Alternativen geschaffen werden.
      Unsere Gesellschaft 
      benötigt gemeinsame Werte und ethische Kompetenz. Auch morgen. Für die 
      Erziehung in diesen Werten tragen wir heute die Verantwortung. Als 
      christlich engagierte Menschen sind wir der Meinung, dass den Kirchen 
      weiterhin ermöglicht werden muss, hierzu wesentliche Beiträge zu leisten. 
      Ich erwarte, dass sich die CVP entschlossen dafür einsetzt.
       
      Zum Schluss:    
      Rekapitulation
      Liebe Politikerinnen und 
      Politiker der CVP
      Damit komme ich ans Ende 
      meiner Ausführungen. Ich habe Ihnen versprochen, dass ich das mich und Sie 
      herausfordernde Thema „Die CVP-Politik aus Sicht der Kirchen“ in einer 
      persönlichen und direkten Art angehen werde - als das was ich bin: ein 
      reformierter, sozial und liberal denkender Theologe.
      Nehmen Sie das vom 
      heutigen Abend in das neue Jahr mit, was Sie überzeugt hat, und vergessen 
      Sie, was Sie nicht überzeugt hat.
      Ich erinnere Sie 
      nocheinmal an wichtige Stichworte:
      
        - 
        
Sie haben in mir einen 
        potentiellen CVP-Wähler kennen gelernt. Aber von Ihnen wird auf jeder 
        Ebene Glaubwürdigkeit gefordert und Orientierung am Gemeinwohl erwartet. 
        „Walk your talk“ 
        würden die Amerikaner sagen.
         
 
        - 
        
Die CVP muss in ihrem 
        Politisieren klar machen, was sie unter christlichen Werten versteht. 
        Sind das letztlich unverrückbare, traditionell-konservative 
        Wertvorstellungen oder können es auch christlich verantwortete offene 
        und liberale Werte sein?
 
 
        - 
        
Ist die CVP eine Partei 
        des Dialoges und des offenen gesellschaftlichen Diskurses? Einer der 
        Prüfsteine ist ihre Rolle im heute eminent wichtigen interkulturellen 
        und interreligiösen Dialog.
 
 
        - 
        
Wie hilft die CVP zu 
        sichern, dass unsere Gesellschaft auch morgen noch über genügend 
        gesellschaftliche Gemeinsamkeiten und über genügend Menschen mit 
        moralischer Substanz verfügt? Unterstützt sie die Kirchen in ihrem 
        diesbezüglichen Beitrag?
 
      
      Werte Damen und Herren, 
      Sie tragen heute die Verantwortung für die Gestaltung einer 
      lebenswerten Zukunft.
      Ich danke Ihnen für Ihre 
      Geduld beim Zuhören, und ich bin Ihnen noch mehr dankbar, wenn Sie den 
      einen oder anderen Denkanstoss in Ihrem Herzen weiter bewegen. Ich wünsche 
      Ihnen einen guten Abend und viel Erfolg in Ihrer Parteiarbeit. 
      Danke.