Interview von 
        Markus Löliger mit Pfr. Dr. 
        Dölf Weder, Kirchenratspräsident, im
        St. Galler Tagblatt 
        vom 14. Febr. 2008
         
        Kirche erleben die Menschen durch deren 
        Wirken vor Ort. «Unsere Kirche befindet sich bezüglich Programmarbeit, 
        Mitarbeitern und Finanzen in einer Position relativer Stärke», sagt 
        Kirchenratspräsident Dölf Weder.
        Dölf Weder, der 
        Visitationsbericht zeichnet ein differenziertes, aber auch 
        widersprüchliches Bild. Differenziert wird die heutige Situation der 
        reformierten Kirche skizziert, widersprüchlich ist der Ausblick. Da 
        heisst es einerseits, die Kirche befinde sich in einer «Position 
        relativer Stärke», anderseits zeichnen sich dunkle Wolken am Horizont 
        ab. Was sind die wichtigsten Erkenntnisse für Sie als 
        Kirchenratspräsident?
        Dölf Weder: Der Bericht zeigt in der Einschätzung 
        unserer Kirchgemeinden einen gewissen Optimismus. Eine negative Stimmung 
        ist in weniger Gemeinden zu verzeichnen als vor zehn Jahren. Ein erstes 
        Fazit: Wir befinden uns als Kirche auf einem guten Weg. Wir haben eine 
        gemeinsam getragene Vision und stellen uns gleichzeitig der Realität. 
        Wir müssen uns auf eine kleinere Kirche einstellen. Kirchen haben ihre 
        Dominanz verloren. Sie sind ein Player unter mehreren in der 
        Gesellschaft.
      Sorgen bereiten sinkende Mitgliederzahlen. Veränderte 
      Familienverhältnisse, Überalterung und zunehmend auch Kirchenaustritte 
      fordern ihren Tribut. Wo soll der Hebel angesetzt werden?
      Weder: Es gibt keinen einfachen Hebel, um hier etwas 
      entscheidend verändern zu können. Gesamtgesellschaftliche Entwicklungen 
      können wir nur wenig beeinflussen. Wir verzeichnen zudem ein Abblättern an 
      den Rändern, auf welches wir kaum Einfluss haben. Es gibt aber auch (Wieder-)Eintritte. 
      Unser Ansatz ist klar: An der Qualität der Programme und Angebote müssen 
      wir arbeiten. Das wirkt sich längerfristig positiv aus. Wir haben uns in 
      der Arbeit geöffnet und streben eine breite und gleichzeitig 
      differenzierte Ansprache der Menschen an. Beispiele sind neue Angebote für 
      Familien oder Menschen ab Alter 55.
      Die Kirche hat einen grossen Vorteil, den sie 
      offensichtlich nicht genügend nutzen kann: Kinder kommen während Jahren in 
      den Unterricht. Warum gelingt es nicht, diese nach Schulaustritt und 
      Konfirmation zu halten?
      Weder: Es gibt seit den 60er-Jahren eine Krise in der 
      Jugendarbeit. Städte und Agglomerationen können dieser professionelle 
      Jugendarbeiter entgegenstellen. Das ist in ländlichen Gebieten mit kleinen 
      Kirchgemeinden kaum möglich. Ein besonderes Problem sind die jungen 
      Erwachsenen. Wir können zwar unser kantonalkirchliches «Netzwerk junge 
      Erwachsene» mit seiner neuen Arbeitsstelle und innovative 
      Gottesdienstformen anbieten. Das hat aber eine bloss punktuelle Wirkung 
      und spricht vorwiegend aktive und zum Engagement bereite junge Leute an – 
      konsumorientierte sind damit schwer zu motivieren. Dazu kommt, dass der 
      «Wettbewerb» um die Jungen gross ist: Kommerzielle Angebote, Parteien und 
      Vereine buhlen um sie. Eine neue Stossrichtung geht deshalb in Richtung 
      Familienkirche. Sie schafft einen neuen Einstiegspunkt und kommt den 
      Bedürfnissen junger Familien und ihrer Kinder entgegen.
      Zum Fehlen der Jungen kommen Austritte von Mitgliedern. 
      Ohne zu dramatisieren, sind diese ein Problem, weil die Kirche damit nicht 
      nur Mitglieder, sondern auch Steuerzahler verliert. Ein Teufelskreis – 
      immer weniger Mitglieder, immer weniger, denen die Kosten aufgebürdet 
      sind?
      Weder: In den vergangenen beiden Jahrzehnten mussten die 
      Steuerfüsse im Durchschnitt nicht erhöht werden, weil die zunehmende 
      Steuerkraft der verbliebenen Mitglieder allfällige Verluste auszugleichen 
      vermochte. In kleinen Gemeinden zeigt sich der Mitgliederschwund 
      allerdings besonders schmerzhaft. Sie sind stark auf den Finanzausgleich 
      angewiesen. Dieser finanziert bis zu 85 Prozent der Kosten in den 
      kleinsten Kirchgemeinden.
      Kann diese Finanzierung von aussen längerfristig Erfolg 
      haben?
      Weder: Nein. Das ist längerfristig nicht durchzuhalten. 
      Nicht nur aus finanziellen Gründen, sondern auch wegen der beschränkten 
      programmlichen Möglichkeiten in diesen kleinen, zunehmend überalterten 
      Kirchgemeinden.
      Was ist die Alternative?
      Weder: Da bringen uns nur Strukturveränderungen weiter: 
      Der Zusammenschluss kleiner Gemeinden zu regionalen Kirchgemeinden. Wir 
      müssen die Anreize im Finanzausgleich so verändern, dass Zusammenschlüsse 
      belohnt werden. Heute sind die Anreize auf die Erhaltung der 
      Selbständigkeit ausgerichtet. Zudem wird die Kantonalkirche personelle 
      Ressourcen zur Verfügung stellen müssen, damit wir betroffenen Gemeinden 
      bei Zusammenschlüssen Hilfe und Unterstützung anbieten können. Wir müssen 
      jetzt handeln, damit wir zukunftsfähig werden.
      Sehen Sie keine Probleme auftauchen, wenn Pfarrerin 
      oder Pfarrer nicht mehr im Dorf wohnen?
      Weder: In der Gemeindearbeit ist die persönliche 
      Beziehung und langfristige Begleitung der Menschen ganz wichtig. Voll- und 
      teilzeitliche Mitarbeitende müssen deshalb auch dezentral in den Dörfern 
      wohnen und dort in das soziale Leben eingebettet bleiben. Ihre 
      persönlichen Stärken werden durch die Zusammenarbeit in einem grösseren 
      Gebiet wirksam.
      Der Kirchenbesuch ist angesichts der Mitgliederzahlen 
      gering. Ist das hinzunehmen oder hat die reformierte Kirche Rezepte 
      dagegen? 
      Weder: Der Kirchenbesuch hat sich gewandelt. Der 
      regelmässige Besucher des Sonntagsgottesdienstes ist selten geworden. 
      Dagegen hat der punktuelle Besuch von Spezialgottesdiensten zum Teil stark 
      zugelegt. Die Menschen bevorzugen heute oft zielgruppenorientierte 
      Angebote und innovative Programme. Beispielsweise mit besonderem 
      thematischem Inhalt oder anderer Musik – Stichwort: Populäre Musik statt 
      klassischer Orgel.
      Und eine ketzerische Frage: Könnte es auch sein, dass 
      Kirchen zu pfarrlastig arbeiten?
      Weder: Das ist keine ketzerische Frage. Und sie wird zu 
      recht gestellt. Wir haben gute Beispiele für neue Angebote, die gemeinsam 
      mit vielen freiwilligen Mitarbeitenden gestaltet werden. Mit solchem 
      partizipativem Vorgehen haben mehrere Kirchgemeinden Erfolg. Wichtig 
      bleibt aber nach wie vor auch das Gottesdienst-Angebot traditioneller Art, 
      das eine fundierte Bibelauslegung und interessante Denkanstösse 
      vermittelt. 
      Der Visitationsbericht listet Stärken und Chancen 
      ebenso auf wie Schwächen und Bedrohungen, und er macht 
      Handlungsvorschläge. Was wird zuerst angepackt bei der Umsetzung der 
      Erkenntnisse?
      Weder: Der Bericht ist eine Synthese der Aussagen der 
      Verantwortlichen der Kirchgemeinden. Den Entscheid fällt die Synode. Der 
      Kirchenrat – eigentlich die Regierung der Kirche – will auf dem durch den 
      Bericht bestätigten Weg weiterfahren. Das bedeutet: Die Programmarbeit 
      weiter stärken sowohl qualitativ als auch in der Vielfalt der Angebote, 
      und diese ergänzen durch neue, innovative Formen. Im strukturellen Bereich 
      steht die Förderung regionaler Kirchgemeinden an – den Entscheid der 
      Synode vorbehalten. 
      Der Visitationsbericht wird alle zehn Jahre erstellt. 
      Wie wird die Kirche 2018 aussehen?
      Weder: Ich hoffe, dass es eine lebendige, für die 
      Menschen relevante Kirche ist. Sie wird kleiner sein, aber weiter nach dem 
      Leitsatz arbeiten: «Nahe bei Gott – nahe bei den Menschen.» Die Kirche 
      wird weiterhin menschliche und gesellschaftliche Relevanz anstreben.
      Interview: Markus Löliger
      
        
        
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        Zeichen der Zeit erkannt
        «Vergälts Gott» – das war 
        einmal. Heute muss sich auch die Kirche nach der Decke strecken, und 
        diese wird bei schwindender Mitgliederzahl zwangsläufig kleiner. Die 
        reformierte Kirche belässt es nicht beim Beten und Jammern. Sie hat die 
        Zeichen der Zeit erkannt und ihr Handeln darauf abgestimmt. Sie bietet 
        neue Gottesdienst-Formen und innovative Programme an, ohne die 
        klassischen Angebote einer reformierten Kirche zu vernachlässigen. Wer 
        auf Orgeltöne pfeift, findet Popmusik und Gospel als Alternative sowie 
        Gottesdienste, die auf lange, schwere Predigten verzichten. Wem das 
        alles zu laut ist, der findet auch die leise Kirche, wo ihm ein 
        gescheiter Kopf die Bibel auslegt und zu Denkanstössen verhilft. Der 
        zunehmende Besuch von besonderen Angeboten zeigt, dass die Kirche auf 
        einem guten Weg ist. Dieser wird aber nicht verhindern können, dass die 
        Kirche kleiner wird, mit weniger Mitgliedern und weniger Geld auskommen 
        muss. Das Rad der Zeit lässt sich nicht zurückdrehen.
        Indirekt ist der neue Weg 
        auch eine Antwort an jenen St. Galler Ökonomieprofessor, der die 
        Freikirchen zum Vorbild erklären wollte und dabei übersah, dass eine 
        Landeskirche kein Fan-Club sein kann, sondern breite Aufgaben 
        wahrzunehmen hat. Es ist wie beim Turnverein und dessen Trampolingruppe. 
        Es braucht beide. Markus Löliger
        (m.loeliger@tagblatt.ch)
        
        
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        Auf dem 
        richtigen Weg
        Diesen 
        Schluss zieht der Kirchenrat der Evangelisch-reformierten Kirche des 
        Kantons St. Gallen in seinem jüngsten Bericht über das Befinden der 55 
        Kirchgemeinden und deren Arbeit. Dieser Visitationsbericht zeigt eine 
        ungeschminkte Innensicht der Kirche – in der Form einer Auslegeordnung 
        und einer Liste von Handlungsvorschlägen.
        
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            Der jüngste 
            Visitationsbericht zeigt, wo die Kirche steht und wo sie hingeht
            Oberstes Ziel der Evangelisch-reformierten Kirche 
            des Kantons St. Gallen ist es, «nahe bei den Menschen» zu sein. 
            Regelmässig wird überprüft, wie gut dieser Leitsatz im Alltag 
            umgesetzt wird. 
            Alle zehn Jahre macht 
            sich der Kirchenrat – die Regierung der Landeskirche im Kanton – 
            auf, alle 55 Kirchgemeinden zu besuchen. Das Resultat dieser 
            Gespräche sowie weitere Erhebungen und Analysen fliessen in den 
            180seitigen Visitationsbericht ein. Es ist eine aktuelle 
            Auslegeordnung der reformierten Kirche von heute. Aus den 
            umfangreichen Ergebnissen entwickelte der Kirchenrat 
            Handlungsvorschläge für die Zukunft.
            Gut positioniert
            Die Kirche befinde 
            sich in «einer Position relativer Stärke», heisst das Grundfazit. 
            Mit der Programmarbeit ist der Kirchenrat zufrieden: Das 
            erfolgreiche Wirken zeige sich beispielsweise in neuen Formen des 
            Gottesdienstes, verstärkten Angeboten für Eltern und Kinder, in 
            vertiefter ökumenischer Zusammenarbeit und sozialem Engagement sowie 
            der stärkeren Einbindung jüngerer Frauen und Männer. 
            Dunkle Wolken ziehen 
            auf
            Der Blick in die 
            Zukunft zeige aber auch dunkle Wolken am Horizont, hält die 
            Kantonalkirche nüchtern fest. Dazu zählen die Überalterung, der 
            schleichende Mitgliederschwund und die starken Veränderungen in der 
            Gesellschaft, die Auswirkungen auf das Kirchenleben nach sich 
            ziehen.
            2006 gehörten 117 429 
            Personen der reformierten Kirche an. Das sind 1600 weniger als noch 
            1970. Die Zahlen zeigen: Jährlich kehren 0,6 Prozent der Mitglieder 
            der Kirche den Rücken und treten aus. Dazu kommt ein Verlust von 
            weiteren 0,2 Prozent durch die demographische Entwicklung und den 
            Rückgang der Geburtenrate.
            Entsprechend stark 
            verringert haben sich in den letzten zwei Jahrzehnten die Zahlen der 
            Taufen und Heiraten. Getauft wurden 1990 insgesamt 1392 Kinder, 2006 
            waren es noch 815. Bei den kirchlichen Trauungen sieht es ähnlich 
            aus. Zum einen gehört die Hochzeit nicht mehr zwingend zu einer 
            Partnerschaft, und in konfessionellen Mischehen ist eine kirchliche 
            Trauung nicht mehr selbstverständlich.
            Gemeindegrösse 
            entscheidet
            Je nach 
            Kirchgemeindegrösse reagiert die Kirche unterschiedlich auf 
            zeitgemässe Forderungen und drohende Gefahren. Grössere 
            Kirchgemeinden profilieren sich und entwickeln ein breites, 
            zielgruppenorientiertes Programmangebot. Sie betonen Gottesdienst 
            und Musik, die Arbeit mit Jugendlichen, Familien und 
            gesellschaftlichen Themen und erleben sich als lebendig. Kleine 
            Kirchgemeinden im ländlichen Raum verfügen über eine deutlich höhere 
            Pfarrdichte. Sie pflegen Gemeinschaft, Tradition und klassische 
            Kirchgemeindearbeit. Die Begrenztheit ihrer programmlichen 
            Möglichkeiten und die finanzielle Abhängigkeit von 
            Finanzausgleichsleistungen machten sie aber verletzlich, heisst es 
            im Visitationsbericht wörtlich. Damit weist dieser auf eine weitere 
            Gefahr hin: Die Kirche wird nicht nur kleiner, es wird auch weniger 
            Geld zur Verfügung stehen.
            Der Visitationsbericht kann kostenlos bei der 
            Kirchenratskanzlei der reformierten Kirche bezogen werden: 071 227 
            05 00, kanzlei@ref-sg.ch
 
         
        
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        Interview: Markus Löliger,
        St. Galler Tagblatt