Ordination eines Pfarrers
        Sonntag, 14. Mai 2000, Evang.-ref. Kirche Kollbrunn ZH
        
        
        Predigt Pfr. Dr. Dölf Weder, Kirchenratspräsident
         
        
        Oliver wird heute mit seiner
        Ordination als vollwertiger Pfarrer in unsere Kirche aufgenommen. Wir werden uns deshalb in die Predigt teilen. Zwischen den beiden
        Predigthälften findet die eigentliche Ordination statt.
        
        
        Auf Vorschlag unseres jungen
        Pfarrers möchten wir uns heute mit euch in die Geschichte von Jesu
        Speisung der 5000 vertiefen; versuchen, sie vor unseren inneren Augen
        neu zu sehen und zu erleben. Wir folgen dabei dem Text im
        Johannesevangelium, Johannes 6, 1 – 13.
        [Lesung Johannes 6, 1–13]
        
        
         
        
        Liebe Gemeinde
        Lieber Oliver
        Diese Geschichte ist wohl eine
        jener, bei deren Lesen in jedem von uns sofort Bilder aufsteigen. 
        Wir sehen vor unserem inneren Auge
        den See Genezareth - das Galiläische Meer, wie es in unserem Text
        genannt wird. Wir sehen die Hügel an seinem Ufer. Wir sehen eine Stelle
        mit viel Gras und noch mehr Menschen darauf - 5000 Leute, sagt unser
        Text, sehr viele also. Und dann ist da Jesus und seine Jünger: Andreas,
        Philippus, Simon Petrus werden genannt.
        
        
        Jesus spricht zu ihnen; spricht über
        das anbrechende Reich Gottes; redet von Gottes Liebe zu uns Menschen.
        Von der Liebe, die uns unsererseits befähigt und ermutigt zur Liebe und
        zum Engagement für unsere Mitmenschen.
        
        
        Wenn ich mir diese Geschichte
        vorstelle, spüre ich immer viel Sonne und Licht. Es geht eine Wärme
        aus von ihr. Jesu Liebe zu den Menschen wird für mich spürbar. Ich
        merke, dass Gott auch mich sucht, dass Jesus auch mich anspricht.
        
        
        Da ist dann allerdings auch noch
        dieses ganz praktische Problem. Von Gott hören, an Jesu Worten hängen,
        das ist ja schön. Aber da ist auch noch der Hunger und der Durst.
        
        
        Von Religion und Glauben reden ist
        ja schön. Aber wenn ich einen hungrigen Magen habe, stehen plötzlich
        ganz andere Dinge im Vordergrund.
        
        
        Und wenn ich an die grossen Gebiete
        der Unterernährung und des Hungers auf der Erde denke: Kann ich dann so
        gleichsam abgehoben vom Glauben reden, und von Gottes Liebe, wenn
        gleichzeitig Menschen an Hunger und Not sterben? Da müssten wir ja
        unmenschliche Zyniker sein.
        
        
        Mir gefällt diese Geschichte. Mir
        gefällt eben Jesus überhaupt. Weil der Glaube, von dem er erzählt,
        eben nicht abgehoben, nicht zynisch ist. Sondern voller Liebe, voller
        auch praktischer Liebe. Voller Aufmerksamkeit auch für die scheinbar
        kleinen Dinge des Lebens.  Für die Hungergefühle seiner Zuhörer,
        zum Beispiel.
        „Woher nehmen wir so viel Brot,
        dass sie alle genug zu essen haben?“ fragt Jesus den Philippus. Er
        fragt ihn nicht einmal, ob man ihnen denn etwas zu essen geben soll. Das
        ist ja klar: Hungrige Menschen sollen gespiesen werden. Ob damals auf
        den Hügeln am See Genezareth oder heute in einer Welt, wo an so vielen
        Orten Hunger und Mangel herrscht. 
        Philippus kann ich dann allerdings
        auch sehr gut verstehen, aus eigener Erfahrung. Das ist ja leicht gesagt vom grossen Chef. Aber wie durchführen?
        „Brot für zweihundert Denare ist nicht genug für sie, auch wenn
        jeder nur wenig bekommt“, wendet er ratlos ein.
         
        
        Sind ja schön, diese christlichen
        Ideale, dieses Reden von der christlichen Liebe. Aber wie, bitte, soll
        denn das in die Realität umgesetzt werden? Wie, bitte, sollen wir denn
        all die Hungernden dieser Welt ernähren? Wie all den Flüchtlingen und
        Migranten, die an unsere Schweizer Türen pochen, Obdach und eine Heimat
        in der Fremde geben?
        
        
        Und als junger Pfarrer, wie unser
        Oliver, wenn ich da mit grossen und wichtigen Worten ordiniert
        werde, wie soll ich denn all diesen vielen und vielfältigen Erwartungen
        der Menschen rund um mich herum gerecht werden? Wie mich bewegen in
        einer Kirche, die ebenso stark im Umbruch ist wie die ganze Gesellschaft
        im Umbruch ist rund um sie herum?
        
        
        Mich verzehren? Mich selber
        aufgeben? Täglich nach Luft und neuer Hoffnung japsen, wie ich das an
        manchen Kollegen beobachte? Scheitern an meinen eigenen unrealistischen
        Erwartungen und an den manchmal so unbarmherzigen Ansprüchen der
        vielartigen Menschen um mich herum?
        
        
        Ein bisschen mehr Realismus, bitte,
        ein bisschen mehr Barmherzigkeit, bitte, lieber Jesus!
        
        
        Als mir Oliver bei unserer
        Vorbesprechung für unsere gemeinsame Predigt diesen Bibeltext
        vorschlug, kam bei mir innerlich sofort vieles in Bewegung.
        
        
        Ich war beruflich bis vor kurzem
        Generalsekretär des Europäischen CVJM Bundes, mitverantwortlich für
        fast 2 Millionen junge Menschen in unseren YMCA Programmen in ganz
        Europa.
        
        
        Ich hatte dieses Amt 1990
        angetreten, also kurz nach dem Fall der Berliner Mauer und dem
        Zerreissen des eisernen Vorhanges. Bis dahin war der Cevi seit dem 2.
        Weltkrieg praktisch nur noch in Westeuropa aktiv gewesen. Aber dann ging
        der Vorhang auf, und Brüder und Schwestern aus Osteuropa schrieben uns:
        „Helft uns beim Wiederaufbau christlicher Jugendarbeit in
        Osteuropa!“
        
        
        Innerhalb von zehn Jahren
        verdoppelte sich die Zahl der Länder, in denen wir in Europa tätig
        sind. Fast 40 Länder sind es heute. Sie reichen von Sibirien, Armenien
        und Georgien im Osten bis zu Island und den Azoren im Westen. Von
        Norwegen und Finnland im Norden Bis nach Malta und Griechenland im Süden.
        
        
        Ich erinnere mich, wie wir damals,
        1990 und 1991, mit auf europäischer Ebene ganz wenigen Mitarbeitenden
        an unseren Tischen sassen und fragten: „Wie, um Himmels willen, können
        wir all diesem Vakuum und Hunger junger Menschen nach einem tragenden
        Fundament in ihrem Leben gerecht werden? Es ist nicht genug für sie,
        auch wenn jeder nur wenig bekommt.“
        
        
        Da und dort, an ganz verschiedenen
        Orten, fanden wir schliesslich bescheidenes Geld und eine Vielfalt von
        Mitarbeitenden.
        
        
        Einer unserer vollzeitlichen
        Mitarbeiter wurde Dietrich Reitzner aus Österreich, Er war
        verantwortlich für Ausbildung, für die Schulung von vor allem jungen,
        lokalen Menschen, die bereit waren, an ihrem Platz, in ihrem Land
        Verantwortung für andere junge Menschen zu übernehmen.
        
        
        Dietrich gab dieser
        Ausbildungsinitiative den Namen „5 plus 2“. Der Name sollte erinnern
        an den kleinen Buben mit den 5 Gerstenbroten und den 2 Fischen in
        unserer Geschichte von der Speisung der 5000.
        
        
        Die „5 plus 2“ Initiative wurde
        zu einem Eckstein in unserer Aufbauarbeit, wurde direkt und indirekt zum
        Segen für heute weit über 100'000 junge Menschen in Osteuropa.
        
        
         
        Und dann merkst du: es reicht! 
        
        
        Liebe Gemeinde
        
        
        Wir alle, die ganze Welt, und auch
        die jungen Pfarrer, wir alle sind heute konfrontiert mit enormen Bedürfnissen
        und Erwartungen. Wir werden gebraucht. Bei uns hier am Ort, in der
        Schweiz, in Europa und weltweit. Wir können nicht nur sonntags vom
        lieben Heiland reden. Sondern wir sind gerufen, wie er auch ganz
        praktisch zu handeln. Gottes Liebe an unsere Menschen weiter zu geben -
        in Wort und Tat. 
        Das scheint schwierig, ja unmöglich.
        Es ist auch schwierig, ja unmöglich.
        
        
        Aber wenn wir die Augen aufmachen,
        dann sehen wir plötzlich diesen kleinen Jungen mit den 5 Gerstenbroten
        und den zwei Fischen.
        
        
        Viel zu wenig, natürlich. Aber ein
        Anfang.
        
        
        Und dann beginnen wir zusammen mit
        Jesus auszuteilen. Zu geben, zu verschenken. Liebe, ja. Aber auch Brot
        und Fisch, und eben das, was wir sonst noch alles haben.
        
        
        Jesus erwartet nicht von uns, dass
        wir alle Probleme der Welt lösen, oder alle Menschen glücklich machen.
        Nicht von uns als Gemeindegliedern, nicht von uns als Pfarrern, und auch
        nicht von uns als jung ordinierten Pfarrern.
        
        
        Nein, Oliver, mach nur treu das, was
        wir alle hier in dieser Kirche tun können:
        
        
        Mach auf deinem Lebensweg die Augen
        auf. Schau den kleinen Jungen an, seine 5 Gerstenbrote und seine 2
        Fische.
        
        
        Er ist klein, er ist jung, er wurde
        von den Erwachsenen wohl kaum wahrgenommen.
        
        
        Aber er ist bereit, mit dir die
        Brote und die Fische auszuteilen beginnen. Stück für Stück, Brocken für
        Brocken.
        
        
        Und dann merkst du: es reicht! Du spürst
        Gottes Gegenwart, du spürst Jesu Liebe. Und du spürst die Dankbarkeit
        der Menschen. Vielleicht beginnen sie dann selber, Brot und Fisch
        auszuteilen. Hoffentlich.
        
        
        Denn das ist das Feuer der Liebe.
        Jesus hat es angezündet. Er gibt es
        an dich weiter. Er gibt es an uns alle weiter.
        
        
        Kerzen erlöschen, wenn sie
        abgebrannt sind. Das Feuer erlöscht nicht, wenn es weitergegeben wird.
        Wärmende Nahrung, wunderbare Speisung. 
        Wir alle dürfen dabei sein. Als
        Empfangende. Und als Weitergebende.
        
        
        Amen.