Pfr. Dr. Dölf Weder, Kirchenratspräsident
        
        
        
         
        
        Es geht um Grundfragen unserer 
        gesellschaftlichen Identität
        
        
        Werte Banquetiers
      Als letzter der 
      eingeladenen Redner heute Abend möchte ich die aktuelle Situation im 
      Schweizer Asyl- und Ausländerrecht aus christlich-kirchlicher Sicht in 
      einen weiteren, auch theologischen Kontext stellen.
      Für uns geht es in 
      dieser Thematik nicht nur um gesetzgeberische Details, sondern um 
      Grundfragen unserer schweizerischen gesellschaftlichen Identität und um 
      das Grundprinzip christlich verstandener Menschlichkeit in unserer 
      Gesellschaft.  Das ist auch der Grund, warum sich sowohl die katholische 
      Kirche wie auch wir Protestanten in der heutigen Situation so lebhaft 
      engagieren.
       
      1. These:
      Die Wertediskussion in der Schweiz ist neu lanciert; viele erkennen sie 
      aber nicht als Wertediskussion.
      Hinter den meisten 
      der grossen gesellschaftlichen Themen, über die heute so leidenschaftlich 
      gestritten wird, stehen fundamentale Werturteile, stehen Entscheide über 
      die Priorität, die einzelnen Werten in der Schweiz der Gegenwart und der 
      Zukunft zugemessen werden soll.
      Ich möchte diese 
      lange Themenliste jetzt nicht aufzählen. Was diese Themen alle gemeinsam 
      haben, ist, dass es bei ihnen nicht nur um technische oder praktische 
      Fragen geht, sondern dass mit jedem Entscheid auch ein Werte-Entscheid 
      gefällt wird - ein Entscheid darüber, welche Werte in der heutigen Schweiz 
      Priorität haben sollen und welche anderen nachzuordnen sind.
      Auch die aktuellen 
      Entscheide im Bereich des Asyl- und Ausländerwesens sind ganz wesentlich 
      Werte-Entscheide und nicht bloss technische Ausführungsbestimmungen. 
      Dessen müssen sich die Politiker noch bewusster werden.
       
      2. These:
      Die Humanität der Schweiz ist nicht garantiert; sie muss stets neu 
      bestätigt und neu interpretiert werden.
      Wir Schweizer 
      lieben es, auf unsere humanitäre Tradition zu verweisen und auf die vielen 
      internationalen Organisationen in Genf. Das waren aber die grossen 
      humanitären Leistungen unserer Vorfahren. Die Frage ist, welchen 
      Stellenwert wir humanitären Anliegen heute einräumen.
      Unsere Politik muss 
      wissen, dass sie mit ihren Entscheiden die Geschichte der humanitären 
      Tradition der Schweiz entweder fortschreibt und für die Gegenwart neu 
      interpretiert oder einen Traditionsabbruch herbeiführt.
      Es muss uns dabei 
      allen bewusst sein, dass Humanität immer auch etwas kostet, und das nicht 
      nur in finanzieller Hinsicht. Humanes Handeln bedeutet stets auch ein 
      Stück Verzicht auf das blosse Verfolgen von Eigeninteressen.
      Uns christlichen 
      Kirchen scheint es, dass verschiedene neueste politische Entscheide gerade 
      auch im Bereich des Asyl- und des Ausländerrechts einen eklatanten Bruch 
      mit dieser humanistischen Tradition bedeuten.
      Dazu gehört 
      namentlich etwa die vom Ständerat beschlossene Ermöglichung der 
      Verweigerung von Nothilfe nach Art. 12 der Bundesverfassung.
      Wenn selbst ein 
      prominenter Bundesrat nach einem widersprechenden Entscheid des 
      Bundesgerichts leichtfertig sagt, dass dann halt die Bundesverfassung 
      geändert werden müsse, dann zeigt das uns Kirchen, dass das Wesen der 
      Humanität heute selbst von verschiedenen führenden Köpfen in unserem Land 
      anscheinend nicht mehr verstanden wird.
      Human ist nämlich 
      nicht einfach, was eine demokratische Mehrheit in einem gewissen Moment 
      mehrheitlich beschliesst.
      Es gibt ethische 
      Werte und Überzeugungen, eben zum Beispiel Humanität, die jedem Recht 
      vorgelagert sind. Ja, sie können sich im Extremfall selbst gegen 
      eine konkrete Rechtssetzung wenden. In ihrem Namen haben sich 
      beispielsweise während des Dritten Reiches namhafte Theologen gegen die 
      Tötung von sogenannt „lebensunwertem Leben“ gewandt.
       
      3. These:
      Es gibt nach christlicher Überzeugung keine Humanität und keine 
      lebenswerte Gesellschaft, wenn deren Gesetzgebung im Widerspruch steht zu 
      grundlegenden Werten des christlichen Glaubens.
      Solche Grundwerte 
      sind für uns Christen beispielsweise - und wir teilen sie mit vielen 
      anderen Menschen guten Willens -:
      
      Wenn darum in einer 
      christlich geprägten Gesellschaft Menschen unter die Räder kommen, dann 
      ist das nicht nur ein Problem dieser Menschen - dass es ihnen schlecht 
      geht -, sondern es bedeutet auch, dass wir, die diese Gesellschaft 
      mitgestaltenden Christen, unserem ureigensten Auftrag und unserer 
      christlichen Identität untreu geworden sind. Die Bibel benutzt dafür die 
      Begriffe Schuld und Sünde.
      Konkret: Wenn 
      mehrere hundert Menschen im Solidaritätsnetz Ostschweiz, darunter auch 
      Pfarrpersonen, solchen grundlegenden Werten zu folgen versuchen - wenn sie 
      beispielsweise Menschen mit einem Nichteintretensentscheid, Menschen, die 
      sich allein in einem fremden Land auf die Strasse gesetzt finden und denen 
      eine grosse, wenn auch unrealistische Lebenshoffnung geplatzt ist, wenn 
      sie solchen Menschen einen warmen Raum und ein Mittagessen offerieren 
      oder, wenn diese abends nach Ämterschliessung obdachlos vor ihrer Türe 
      stehen, ein Bett bereiten – wenn sich solche solidarische Menschen damit 
      bereits am Rande der Legalität sehen müssen, dann ist aus 
      christlich-humanitärer Sicht diese Legalität in Frage zu stellen und nicht 
      das Handeln der Menschen.
       
      4. These:
      Jeder Wert wird zum Unwert, wenn er absolut gesetzt wird.
      Das habe ich in 
      meinem Studium vom grossen Sozialethiker Prof. Arthur Rich gelernt. Er 
      nannte dies das wichtige Kriterium der Relationalität des Humanen.
      So wichtige Werte 
      wie Freiheit, Orientierung am Gemeinwohl oder Sicherheit werden zu 
      Un-Werten, wenn sie absolut gesetzt und zum alleinigen Massstab der Dinge 
      gemacht werden. Es gilt stets, sie in Relation zu anderen Werten zu 
      setzen. Es geht um eine Balance der Werte. 
      Was im Moment in 
      der Schweiz geschieht, ist die Absolutsetzung des Wertes 
      „Missbrauchsbekämpfung“. Das ist ein Verlust der Balance und der 
      Angemessenheit.
      Kürzlich sagte mir 
      ein prominenter Nationalrat, aus einer liberalen Partei in der 
      Westschweiz, dass für ihn das Schwierigste und Unverständlichste in der 
      gegenwärtigen Situation sei, dass die meisten politischen Kräfte wie 
      gebannt nur noch auf die Schlange „Missbrauch“ blickten und dabei alles 
      vergässen, was die rechtliche und die christlich-humanitäre Tradition der 
      Schweiz ausmache.  Dabei hänge die ganze moralische Autorität der Schweiz, 
      und deren Botschaft an die Welt, genau am fragilen Zusammenspiel dieser 
      beiden Dinge: Recht und Humanität.
      Die 
      Verhältnismässigkeit, das Augenmass ist am Verlorengehen.
      In Verteidigung 
      unserer Identität und in Übertreibung an sich berechtigter 
      Missbrauchsbekämpfung beeinträchtigen wir genau die Werte und die 
      Identität, die wir zu verteidigen vorgeben.
       
      
      Zum Schluss noch 
      ein Wort, das mir kürzlich einer unserer Pfarrer auf den Weg mitgegeben 
      hat.
      Er sagte: „In 20 
      Jahren müssen wir dann wieder die Geschichte unseres Umgangs mit 
      Asylsuchenden aufarbeiten. Da setze ich mich lieber bereits jetzt mit 
      allen Kräften für jene ein, die uns in ihrer schwierigen Situation als 
      Mitmenschen brauchen.“
      Dem ist nichts 
      hinzu zu fügen.
      Danke.