Vorwort zum Amtsbericht 1999 der
        Evang.-ref. Kirche des 
        Kantons St. Gallen, Februar 2000
        
        
        Pfr. Dr. Dölf Weder, Kirchenratspräsident
        
        
        
         
        Kirche mit
        und neben den Menschen von heute
        
        
        Nicht nur die Diskussionen rund um
        den Millenniumswechsel haben es deutlich zum Ausdruck gebracht: Die
        Menschen spüren, dass sich unsere Gesellschaft in vieler Beziehung in
        einem tiefgreifenden Umbruch befindet. Dessen Zeichen und Konsequenzen
        sind auch in der St. Galler Kirche spürbar. Sie kann sich dieser
        Tatsache verschliessen und sich auf eine kleiner werdende Gruppe von
        „Getreuen“ konzentrieren oder mit Kreativität, Mut und Veränderungsbereitschaft
        fragen, was Christ sein heute, was Kirche sein heute bedeutet.
        
        
        Das ist ja die Konsequenz von
        Christi Menschwerdung, von Inkarnation: Christlicher Glaube ist nicht
        bloss ein unveränderliches intellektuelles Lehrgebäude, das sich in
        einer für immer gegebenen Liste kirchlicher Aktivitäten ausdrückt.
        Sondern er bedeutet – auf der Basis von Christi Handeln – stets neue
        Begegnung mit Gott und mit den Mitmenschen, in Formen, die dem
        kulturellen und gesellschaftlichen Wandel unterliegen.
        
        
        Meine Überzeugung ist, dass sich
        christliche Kirche mit und neben den Menschen von heute durch drei Dinge
        auszeichnet: gut zuhören – glaubhaft reden – diakonisch handeln.
        Ueber Mitgliederzahlen und Finanzen darf man auch diskutieren, aber nur,
        wenn diese drei Dinge konsequent getan werden; viele Sorgen erweisen
        sich dann als überflüssig.
         
        
        Kirchen stehen stets in der
        Versuchung, selber zu reden und die Menschen zu bloss Zuhörenden zu
        machen. In moderner Ausdrucksweise heisst das „Position beziehen“,
        „Leitplanken setzen“, „Werte liefern“. Es ist das Modell „Wir
        – und die anderen“. Jesus handelte anders. Er hörte und beobachtete
        zuerst einmal die Anliegen, die Sorgen und auch die Schuld der Menschen
        und bot ihnen dann an, Gottes Nähe in ihrer ganz speziellen Situation
        zu erfahren. Dies befähigte sie zu neuem Handeln. Die Menschen von
        heute sind offen für dialogische Gespräche und partnerschaftliche
        Begleitung, auch für die Diskussion christlich-ethisch motivierter
        Standpunkte. Aber sie wollen nicht belehrt werden. Für uns bedeutet
        das: Konsequent von den Menschen und ihren Situationen her denken, und
        nicht bloss von unseren eigenen Programmen und Überzeugungen.
        
        
         
        
        Erst nach dem Zuhören kommt das
        Reden, dialogisches Reden. Es soll glaubhaft sein und sich in aller
        Offenheit den Realitäten stellen. Warnsignale sind Äusserungen wie:
        „Ihr glaubt selber nicht mehr daran und wagt nicht einmal, euch das
        einzugestehen“, oder: „Ihr kapselt euch in einer religiösen
        Sonderwelt ein, die nur noch wenig mit der heutigen Alltagswelt zu tun
        hat“, oder: „Die Menschen laufen euch davon“.
        
        
        Es ist die Frage nach unserer
        spirituellen Verwurzelung und deren Realitätsbezug. Denn Kirche steht für
        Glauben. Und Glaube hat es mit dem wirklichen Leben zu tun. Auch uns
        freizeitlichen, teil- und vollzeitlichen Mitarbeitenden sind manche
        traditionelle Glaubensformen und Erscheinungsweisen von Kirche brüchig
        oder gar fremd geworden. Glaubhaft reden erfordert nicht felsenfeste Überzeugungen
        oder traditionelles kirchliches Verhalten, aber ehrliches
        und offenes Unterwegssein auf einem geistlich-spirituellen Weg, der
        stets auch das Leben und dessen Realitäten sehr ernst nimmt.
         
        
        Die Glaubhaftigkeit jeden Redens
        zeigt sich am deutlichsten im Handeln, in kompetentem und für Menschen
        relevantem Handeln. Soziologen nennen das „soziale Glaubwürdigkeit“.
        Es bestehen heute hohe Erwartungen an das sozial-diakonische Handeln der
        Kirchen und ihrer Mitglieder. Es ist nicht einfach delegierbar an
        sozial-diakonische Spezialisten. Jedes christliche Handeln, inbegriffen
        das Reden, soll diakonisch dienendes Handeln sein, auch das hat uns
        Jesus vorgelebt. Es richtet sich gerade auch an Menschen am Rande und in
        schwierigen Lebenssituationen, lokal und global gesehen. Die Kirchen
        werden damit nicht zu sozialen Dienstleistungsorganisationen,
        sondern sind aufgerufen, alle ihre Glieder, freizeitliche und
        angestellte, unter optimalem Einsatz ihrer je spezifischen Gaben zum
        Dienst am Ganzen und an den Mitmenschen zu ermutigen und zu befähigen
        – lokal, global und oekumenisch.
        
        
        Kirche mit und neben den Menschen
        von heute, mitten in einer gesellschaftlichen Umbruchsituation, bedeutet
        eine grosse Herausforderung. Aber auch die Einladung zu einem
        spannenden, ganzheitlichen Miteinander- und mit Gott Unterwegssein – hörend,
        redend und handelnd.
        
        
        Allen, die daran auch im vergangenen
        Jahr mitgearbeitet haben, sei im Namen der Kantonalkirche ein ganz
        herzlicher Dank ausgesprochen.